Walblubber & Verwesung
Fotos: Claes Bech-Poulsen, aus dem Kochbuch KOKS, erschienen im Bent C Forlag ApS
Im Herbst kommt ungeschönt zum Vorschein, wo der Herrgott sein Füllhorn besonders großzügig ausgeschüttet hat. Die 18 Färöer-Inseln standen definitiv nicht auf Platz eins seiner To-do-List: Blanker Fels, viel Wasser und dazwischen Gräser, Moose und Flechten. Wachsen und gedeihen tut hier darüber hinaus nicht viel, was die Hauptbewohner des Landes – rund 70.000 Schafe – nicht sofort wegputzen würden. Sie sind Namensgeber der Schafsinseln – die 50.000 menschlichen Einwohner haben das Nachsehen. Und das hatten sie lange Zeit auch kulinarisch, bis einer von ihnen auszog, um diesen Umstand zu ändern.
Heimat eine neue kulinarische Identität.
Und das war nötig.
Sein Name: Leif Sørensen. Im Jahr 2004 unterzeichnete er gemeinsam mit Claus Meyer, René Redzepi und Co. das New Nordic Food Manifesto und gab seiner Heimat eine neue kulinarische Identität und das beste Restaurant des Landes mit dem Namen KOKS. Und das war nötig.
Essen, um zu überleben
Abgeschiedenheit gehört zu den wenigen Dingen, die es auf den Färöern im Überfluss gibt. Ganz im Gegensatz zu…
Fotos: Claes Bech-Poulsen, aus dem Kochbuch KOKS, erschienen im Bent C Forlag ApS
Im Herbst kommt ungeschönt zum Vorschein, wo der Herrgott sein Füllhorn besonders großzügig ausgeschüttet hat. Die 18 Färöer-Inseln standen definitiv nicht auf Platz eins seiner To-do-List: Blanker Fels, viel Wasser und dazwischen Gräser, Moose und Flechten. Wachsen und gedeihen tut hier darüber hinaus nicht viel, was die Hauptbewohner des Landes – rund 70.000 Schafe – nicht sofort wegputzen würden. Sie sind Namensgeber der Schafsinseln – die 50.000 menschlichen Einwohner haben das Nachsehen. Und das hatten sie lange Zeit auch kulinarisch, bis einer von ihnen auszog, um diesen Umstand zu ändern.
Heimat eine neue kulinarische Identität.
Und das war nötig.
Sein Name: Leif Sørensen. Im Jahr 2004 unterzeichnete er gemeinsam mit Claus Meyer, René Redzepi und Co. das New Nordic Food Manifesto und gab seiner Heimat eine neue kulinarische Identität und das beste Restaurant des Landes mit dem Namen KOKS. Und das war nötig.
Essen, um zu überleben
Abgeschiedenheit gehört zu den wenigen Dingen, die es auf den Färöern im Überfluss gibt. Ganz im Gegensatz zu einer abwechslungsreichen Botanik. Die Locals – in ihren Adern fließt noch ein Teil vom Wikingerblut der Vorfahren – lernten daher schon vor Jahrhunderten, mit dem begrenzten Angebot auszukommen. Ihre Hauptnahrungs- und Proteinquellen bis vor rund 150 Jahren: Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte. In jeder erdenklichen Form sind sie auch heute noch in Färinger Speisekammern anzutreffen – gesalzen, fermentiert, getrocknet und natürlich auch frisch. Klingt jetzt verdächtig nach einer Küche, die aus der puren Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme heraus entstanden ist. Und genau das ist der Fall, bestätigt und ergänzt Sørensen: „Es gab hier früher kaum Restaurants und die Leute schämten sich für ihre deftige Küche, servierten den Gästen lieber internationale Gerichte.“ So begann auch Sørensen erst durch sein Biologiestudium in Island, die Finessen und Möglichkeiten des Fine Dinings zu entdecken. Die verkürzte Version: Er verschrieb sich dem Kochhandwerk und stellte es unter anderem im renommierten Kopenhagener Restaurant Kommandanten auf die Probe. Die hyperregionale Philosophie des Nordic Food Manifesto bringt er mit dem Restaurant KOKS in die Heimat. Der Name bedeutet Flirt, aber auch Pedant. Passend ist beides.
Im wohl außergewöhnlichsten Restaurant des Landes werden vorwiegend rohe, lokale Produkten und alte Techniken der Inselküche mit modernen Methoden kombiniert. Heute, rund sechs Jahre später, hat sich an diesem Ansatz nichts geändert. Nur umgesetzt wird das Konzept seit Feber 2014 nicht mehr von Sørensen, sondern von seinem ehemaligen Sous und jetzigen Executive Chef Poul Andrias Ziska. Aber auch der kennt als gebürtiger Färinger seine Heimat wie seine Westentasche, trägt die Traditionen in die Zukunft, macht seine Heimat schmeckbar.
Engpass in der Inselküche?
Eine Färöer Tradition ist die enge Verbindung mit der Natur – vom felsigen Land über die Gewässer bis hin zu dem, was sich in der Luft abspielt. Vogelkundler pilgern scharenweise zu den abgelegenen Inseln. Die Einheimischen wissen aber auch in der Küche viel mit den gefiederten Färingern anzufangen. Junge Tölpel, aber auch Papageientaucher gelten als Spezialitäten der Inseln.
Von denen gibt es auch im Meer reichlich: Die Gewässer um die Inseln zählen zu den besten Fanggebieten Europas. Von dort kommen Tiefseemuscheln mit unvergleichlich cremiger Textur. Die handtellergroßen Miesmuscheln haben es nicht nur auf die Karte des KOKS, sondern auch auf die des El Celler de Can Roca geschafft. Riecht verdächtig nach einer neuen Benchmark in puncto Seafood, die auf den Färöern gesetzt wird. Und diese Vermutung wird von niemand Geringerem als René Redzepi bestätigt: „Langusten und Krabben hab ich schon auf der ganzen Welt gegessen und dachte zu wissen, wie gut sie schmecken können. Was ich dann auf den Färöern erlebt habe, war eine Lektion in Sachen Geschmack und Herrlichkeit. Krabbenfleisch hat dort die Textur von Hummer und ist süß wie Melonen. Die unterarmgroßen Langusten schmecken so intensiv und salzig, dass es einen fast hypnotisiert.“
und salzig, dass es einen fast hypnotisiert.
Die Fische der Färöer machen das Gebiet zum Eldorado für Hobbyangler. Jede Färinger Familie hat ohnehin ihr eigenes Boot – über 300 Arten gehen ihnen dort ins Netz, von Dorsch über Heilbutt, Schellfisch und Rotbarsch bis Lachs. Der begehrteste unter ihnen ist der Färöer Bank-Kabeljau. Diese Spezialität gibt es nur an drei Tagen im Jahr. Er gehört zur Familie der Weißdorsche und wird in einem 20 Quadratkilometer großen Areal geboren, lebt und stirbt auch dort. Er ist im Gegensatz zu anderen Dorschen kein Wanderer. Obwohl er unter Schutz steht, haben die Färinger ein Schlupfloch gefunden, um die Delikatesse genießen zu können: An besagten drei Tagen im Frühling darf ein Forschungsschiff einige Hundert Kilo Bank-Kabeljau aus dem Ozean holen. Sobald der wissenschaftliche Teil erledigt ist, ist das große Schlemmen eröffnet. Aber wie gesagt, nur an drei Tagen und nur in einem einzigen Restaurant, dem Aarstova. Dort kommt beim Bank-Kabeljau-Fest alles vom Fisch auf den Teller. Das verlangt der Respekt, der dem Tier entgegengebracht wird: Zungen, Backen, Leber, sogar die fermentierten Eingeweide werden zu kulinarischen Offenbarungen verschmurgelt.
Eine weitere typische Färöer Delikatesse: Wal. Ob politisch unkorrekt oder nicht – der Grindwal steht auf den Inseln schon seit jeher auf dem Speiseplan. Zum Beispiel in Form von Walblubber, dem gesalzenen, zentimeterdicken Fett der Meeressäuger.
Die KOKS-ifizierte, moderne Interpretation: „Grindwal – Rote Bete – Seegras“. Neben den Fischen und Meeresfrüchten kommt eine weitere wichtige Färöer Zutat aus dem Meer: Algen. In Japan seit Jahrhunderten Teil der kulinarischen Tradition, sind sie auch von den Schafsinseln nicht wegzudenken. Die Nährstoffbomben mit den Namen Meeressalat, Dulse, Seegras, Rot-, Grün- und Braunalge dienten früher zu Pulver gerieben als Ersatz für das teure, weil nicht auf der Insel vorkommende, Salz. Schwarzes Algensalz fehlt demnach auch nicht im KOKS. Aber der frische Blick auf die Heimat schlägt sich auch in Gerichten wie „Schafskopf – Seegras – Kräuter“ nieder. So vielfältig das Angebot unter Wasser ist, so beschränkt ist die Auswahl im Färinger Veggieregal: Rüben, Wurzelwerk und Kartoffeln, ein paar Beeren, Wildkräuter und Rhabarber. Das war es dann schon fast. Was jedoch trotz ungünstigem Klima reif wird, zieht einem mit einzigartigen, erdigen Geschmäcken die Schuhe aus.
Da ist was faul …
Bei der Zubereitung der traditionellen Gerichte geben sich die Einheimischen betont praktisch. Eintopf lautet das Stichwort. Nahrhaft und funktional. Das trifft auch auf die Färinger Spezialität schlechthin zu – Ræst. Fermentiertes Fisch- beziehungsweise Lammfleisch. Beides wird im Herbst in eine der vielen zugigen Trockenhütten, auch Hjallur genannt, gehängt, bis das Verhältnis von Feuchtigkeit und Aromenvielfalt stimmt. Die beste Zeit zum Ræsten ist der Winter, da sind die Fliegen zu träge oder nicht da. Zur Zubereitung von richtig gutem Ræst hat wahrscheinlich jeder Färinger seine eigene Meinung. Die wichtigsten Eckpunkte: Nicht zu warm, aber auch nicht zu kühl sollte es sein, sonst stimmt das Aroma im Ergebnis nicht. Sieben Grad Celsius sind ein guter Wert, wenn der Zug nicht zu extrem ist … Und gesalzen wird das Grundprodukt nicht, was für den ausgeprägten Schimmel, sprich Aroma, sorgt. Sechs bis acht Wochen Trockenzeit werden dem Ræst gegeben. Hängt er länger, wird er zum Premium-Produkt Skærpekød. Bei einer Fermentationszeit von fünf bis neun Monaten erinnert das getrocknete Schaffleisch dann optisch an Parmaschinken. Bei der Optik hören die Parallelen aber auch schon wieder auf – zum ausgeprägten Schaf-Geschmack kommt die Blauschimmelkäsenote, die das Ergebnis zum Stolz der Einheimischen und zur kulinarischen Herausforderung für Fremde macht. Leif Sørensen: „Ræst und Skærpekød sind Umami-Bomben!“ Und funktional. Wie die Inselküche allgemein der Notwendigkeit verpflichtet.
Bewusstsein schaffen
Nimmt man die Banalität aus dem Nötigen, öffnen sich die Sphären zum Genuss. Einfache, zweckdienliche Gerichte füllen zwar auch heute noch die Bäuche hungriger Färinger. Mit Leif Sørensen und der neuen Generation von Nordic Chefs wie Poul Andrias Ziska drehte sich der Wind aber und machte den Blick frei für neue kulinarische Horizonte. Mit KOKS hat endlich der Genuss Einzug ins Land gehalten.
Alles, was das Potenzial zum Großartigen hat, gab es immer schon auf den Inseln. Erkannt wurde es aber nicht. Oder nicht kommuniziert. Das Aufzeigen der Möglichkeiten ist demnach Sørensens und Ziskas größter Beitrag zur kulinarischen Entwicklung ihrer Heimat.
Seit elBulli wissen wir, dass ohne Synergien keine Grenzen überwunden werden können. Ohne das Wissen von Biologen und Wissenschaftern, Kräuterkundlern und Botanikern weiß ein Chefkoch heute allein im Wald auch nicht, welches Kraut das Potenzial zur neuen Lieblingszutat hat und welche Wurzel dem Gast ein Nahtoderlebnis beschert. Durch den Austausch mit diesen Experten anderer Fachbereiche lässt sich die Heimat neu erschließen. Und das Beispiel KOKS/Ziska zeigt: Dadurch lässt sich die Palette an Zutaten jährlich um 20 bis 30 Neuentdeckungen erweitern.
Wurzeln und Äste
Der erst 24-jährige KOKS-Executive-Chef Ziska und sein Team um Sous Chef Áki Herálvsson, Sommelière Karin Visth und Maître d’Hôtel Anita Andreasen möchten die Färöer kulinarisch erlebbar machen. In ihren Traditionen wie auch in den Produkten. In den aktuellen Menüs namens „Wurzeln“ und „Äste“ ist ihnen das in bester nordischer Tradition gelungen.
Die „Wurzeln“ sind für 87, die „Äste“ für 140 Euro ohne Weinbegleitung zu haben. Mit verdoppelt sich der Preis. Dienstag bis Sonntag von 18:30 bis 22 Uhr finden sich im Schnitt 25 Gäste an den neun Tischen im KOKS ein. Die Thorshavener Bucht im Blick, über der das Restaurant mit dem angeschlossenen Hotel Føroyar liegt. Da darf das Auge ruhig schweifen, denn welche Begleitung passt besser zu dem, was in rund drei Stunden auf die Gaumen gezaubert wird. Ziska: „Mit dem Wurzeln-Menü graben wir uns tief in die Erde unserer kulinarischen Kultur und unserer Tradition, servieren unseren Gästen das Beste, was die Färöer zu bieten haben. Ein umfassendes Erlebnis. In unserem Äste-Menü nehmen wir die Vogelperspektive ein. Es besteht aus sorgsam ausgewählten, emblematischen Zutaten für eine Erfahrung mit Feinschliff.“
Im Schnitt vier bis sechs Köche werken im Hintergrund, um aus dieser Erfahrung eine unvergessliche zu machen. Drei Gerichte von zehn überqueren den Pass warm, der Rest hat keine Hitze nötig, um für heiße Schwärmereien oder hitzige Diskussionen zu sorgen.
Mit Hitze hat man es auf den Schafsinseln ohnehin nicht so. Gottes Füllhorn hat eben anderes für die felsigen Inseln vorgehabt. Schön, dass die Färinger das im besten Maß zu würdigen wissen.