Kartograf am Küchenpass
Fotos: Helge Kirchberger
Auf 4200 Metern ist nicht viel. Eisiger Wind, ein bisschen struppiges Gras, das zwischen Felsspalten herausragt, und bei guter Witterung vereinzelte Sukkulententeppiche. Auf extremer Höhe ist eben extrem nichts aus kulinarischer Perspektive zu erleben. So weit die Angelegenheit die europäischen Alpen betreffend. Anders in den peruanischen Anden. Da sieht es bei dieser „Extreme Altitude“ folgendermaßen aus: Isco-Kartoffel, Cushuro und Mullaca-Wurzel…
Fotos: Helge Kirchberger
Auf 4200 Metern ist nicht viel. Eisiger Wind, ein bisschen struppiges Gras, das zwischen Felsspalten herausragt, und bei guter Witterung vereinzelte Sukkulententeppiche. Auf extremer Höhe ist eben extrem nichts aus kulinarischer Perspektive zu erleben. So weit die Angelegenheit die europäischen Alpen betreffend. Anders in den peruanischen Anden. Da sieht es bei dieser „Extreme Altitude“ folgendermaßen aus: Isco-Kartoffel, Cushuro und Mullaca-Wurzel.
Zumindest ist das so in der Calle Santa Isabel 376 auf 79 Meter Meereshöhe. Denn hier ist der geografische Ausgangspunkt für die kulinarische Erforschung Perus, die sämtliche Gipfel und Meerestiefen beinhaltet. Das Basislager: Central Restaurante in Lima. Der Reiseleiter: Virgilio Martínez. Smart, dynamisch, überlegt, neugierig, fokussiert und PR-gebrieft. Ein Vertreter der neuen Generation der südamerikanischen Köche, jedoch ohne das brasilianische Antiautoritätsgehabe eines Alex Atala und ohne den kommerziellen Touch seines peruanischen Landsmannes Gastón Acurio. Martínez steht in seinem Heimatland für die konstante Wiederentdeckung und der widerspenstigen Natur Zähmung – in Europa für Neuentdeckung. Denn in unseren Breitengraden kennt man außer dem schon oft georderten Pisco an der Bar und dem gerade aktuellen In-Gericht Ceviche sowieso nichts, was aus Peru kommt. Kokain und Kakao ausgenommen.
Es sind dann aber eher Copazu, Algar-robina, Tumbo und Chuño, die Martínez in die Liga der zu entdeckenden Köche katapultiert haben und ihn in die Riege der Gastköche im Hangar-7 haben aufsteigen lassen. In mühevoller Kleinarbeit und in enger Zusammenarbeit mit der Mater Iniciativa, einem Zusammenschluss von Köchen, Anthropologen, Forst-Ingenieuren und verschiedenen Industriellen, arbeiten sich Martínez und sein Team konsequent durch Peru. Immer auf der Suche nach Produkten, die entweder in Vergessenheit geraten oder noch nicht einmal für die Küche entdeckt worden sind. Der von der S.Pellegrino-Liste zum besten Koch Lateinamerikas gekürte Martínez ist dabei kein Grenzgänger. Was außerhalb der Landesgrenzen Perus wächst, das kommt nicht über den (Küchen-)Pass. Radikale Regionalität. Wobei, wenn man die Gesamtheit Perus betrachtet, dann hat man nicht das Gefühl, dass sich Martínez in irgendeiner Weise einschränken müsste. 2300 Kilometer Küste, an der durch das kalte Wasser des Humboldtstroms Anglerfisch, diverse Muscheln von Jakob bis Auster, Calamari und Oktopusse in die Netze gehen, das Hochland mit mehr als 3000 Sorten Kartoffeln und alten Getreidesorten und nicht zu vergessen wäre, dass 60 Prozent der Landesfläche Perus von Regen- und Nebelwald bewachsen sind. Der Amazonas mit Maniok, Lulo, Açai und Co. lässt variantenreich grüßen.
Versuchen, sich irren, aber niemals aufgeben
Das klingt für Terroir-besessene Europäer und 30-Kilometer-Radius-Radikale vielleicht ein wenig nach Beschiss, aber die Krux liegt eben genau in der Fülle. Die Wahrscheinlichkeit, in Zentraleuropa noch ein Produkt zu finden, das es noch niemals in einer Art und Weise in eine kommerzielle Küche geschafft hat, tendiert gegen null. In Peru bei einem Nachmittagsausflug in die Berge oder in den Dschungel kann der wachsame Jäger und Sammler mit einem Ranzen völlig unbekannter Wurzeln, Kräuter und Früchte zurückkehren. Die individuelle und auf den Punkt gebrachte Aufarbeitung genau dieser Produkte ist es, die Martínez zu einem ungewöhnlichen Koch macht. Denn dem Unbekannten genau die Verarbeitung und Technik angedeihen zu lassen, die es benötigt, um sein gesamtes Aroma freizugeben, ist die eigentliche Herausforderung, der sich Martínez seit 2008 stellt.
Da nämlich hat er das Central mit Schwester und Ehefrau gegründet. Ohne viel Kapital, dafür mit viel Enthusiasmus und Engagement. Bis heute läuft das Restaurant nicht kostendeckend – trotz etwa 800 Reservierungsanfragen pro Tag und einem umgerechneten Preis von etwa 110 Euro für das „Mater-Elevations“-Menü, bei dem jeder Gang nur aus Produkten besteht, die sich in derselben Höhenlage befinden. Aber 65 Mitarbeiter auf 65 Plätze gerechnet zollen eben ihren finanziellen Tribut – und dass Martínez einige Gäste kostenlos in den Genuss seines Menüs kommen lässt, trägt den Rest dazu bei: „Wenn ein Peruaner in mein Restaurant kommt, dann weiß ich, dass er gespart hat. Denn das Menü kostet etwa ein Viertel seines Monatsgehalts. Und sitzt er dann andächtig vor seinen Gerichten und ich sehe, wie sehr er sich darüber freut, dann streiche ich seine Rechnung.“
Sich selbst in den Ruin treiben will
Martínez mit dieser Art, Business zu machen, freilich nicht. Das Geld für die Pflege der kulinarischen Kulturgüter seines Landes lukriert er aus den beiden Restaurants, die er in London gemeinsam mit zwei venezolanischen Geldgebern und Partnern betreibt. Das Lima Fitzrovia und das Lima Floral. Zwei einträgliche Cash-Cows, die präzise auf den Südamerika-Hype Europas abgestimmt sind. Gemeinsamkeiten mit dem Central Restaurant in Lima gibt es so gut wie keine. In London werden traditionelle peruanische Gerichte, die neu aufgemotzt wurden, wie „Root Pachamanca“ und „Sea Bream Ceviche“ serviert. Auf hohem Niveau, aber lässig heruntergebrochen und für die breite Masse zugänglich. Etwa alle drei Monate ist er vor Ort, kommt er zurück, ist sein erster Weg in die Küche des Central. Meist gleich mit Gepäck.
Dass er überhaupt eines Tages in einer Küche stehen würde, war so allerdings auch nicht absehbar. Als angehender Jurist überlegte er sich während des Wartens auf die Einschreibung für das neue Semester, dass er dann doch lieber Koch als Anwalt werden möchte. Das Studiengeld bekam der Vater zurück und Martínez machte sich auf, um nach einer Ausbildung an der renommierten Cordon-Bleu-Akademie mehr als ein Jahrzehnt durch die Küchen der Welt zu reisen. Von London über Singapur, wo er eine Stage im Four Seasons machte, bis hin zum Can Fabes in Sant Celoni.
Irgendwann hatte Martínez allerdings genug davon, sich perfektionieren zu lassen. Er wollte spielen, wollte wieder Chili mit Fisch. Und zwar daheim.
Und jetzt eben: Isco-Kartoffel, Cushuro und Mullaca-Wurzel. „Extreme Altitude“. Das Herzstück dieses Gerichtes mit der Höhenangabe 4200 ist die Isco-Kartoffel, die als eine Variante der Chuño, als Tunta, verarbeitet wird. Zwar hat Peru mehr als 3000 Kartoffelsorten, aber deswegen sind diese nicht länger haltbar als die hierzulande. So wird die frostresistente Sorte Isco nach der Ernte auf natürlichem Weg gefriergetrocknet – nämlich nachts im Frost auf über 4000 Meter Seehöhe. Dadurch wird ihr das Wasser entzogen und die Sonne am nächsten Tag trocknet die Kartoffel aus. Mehrfach wiederholt und zwischen den Trocknungsetappen unter fließendem Wasser gewaschen, entstehen die Tunta. Martínez kombiniert dieses traditionsreiche Basisprodukt mit Cushuro, den wiederentdeckten „Tränen der Bitterkeit“. Erst im letzten Jahr wurden sie von Mater Iniciativa erforscht, katalogisiert und in die Sammlung für den Martínez’schen Küchenschrank aufgenommen. Auf etwa 3600 Meter Seehöhe, in der Provinz Cusco, entstehen während der Regensaison kleine Frischwasser-Pools, in denen sich diese blau-grünen Algen, die eigentlich gar keine sind, vermehren. In Fakt ist es eine der weltweit einzigen Arten von Cyanobakterien, die essbar sind und als kleine Kügelchen mit einem Durchmesser von ein bis zwei Zentimetern in Erscheinung treten. Während die indige Bevölkerung anhand deren Wachstum vorhersagen konnte, ob es wettermäßig ein gutes oder schlechtes Jahr werden würde, verwendet Martínez die Cushuro, um den weiterverarbeiteten Tunta eine zusätzliche Textur und Tiefe zu geben, die perfekt mit deren etwas erdiger Geschmackstonalität harmonisiert.
Komm, lass den Tiger raus
Eine unersetzliche Komponente in vielen Gerichten von Virgilio Martínez (und allgemein in Peru) ist die Leche de tigre. Eine säurebasierte Marinade für Fisch und Meeresfrüchte, die klassischerweise für Ceviche eingesetzt wird. Während der Otto-Normal-Peruaner-und-Koch dafür Zitrusfrüchte hernimmt, die erst mit den Spaniern nach Peru eingeführt wurden, ist es bei Martínez die Tumbo, die Bananenpassionsfrucht, die für die Marinade verwendet wird. Die Leche de tigre kommt dabei in verschiedenen Kombinationen auf den Tisch. Die ungewöhnlichste wird durch die Milch von Kaktusblättern so in ihrer Textur verändert, dass sie als Shot serviert wird. Da vorher von der massigen Fülle an Produkten Perus die Rede war: Alleine von Mais gibt es weit über 4000 Sorten. Der violette Mais, auch Kculli genannt, wird dem Oktopus an die Seite gestellt – bei dem Gang „Diversity of Corn“ geht es da ein wenig verschachtelter zu. Für Maishippe, -mousse und -cracker werden bis zu 15 verschiedene Sorten zusammengemengt. Was den Namen erklärt, der auch wegen der extremen Texturvielfalt fällig gewesen sein könnte.
Dass Peru nun in den Dunstkreis der Gourmet-Kreise geraten ist, macht Martínez nicht uneingeschränkt nur Freude. Denn ein Trend ist dazu geschaffen, in spätestens zwei Jahren Staub anzusetzen und dann zu verschwinden. Was nicht bedeutet, dass er diesen Aufwind nicht nutzt. Martínez tingel zurzeit zwischen Lima, London und der Welt im Allgemeinen herum – wie als Januar-Gastkoch im Restaurant Ikarus in Salzburg, auf dass er seine Kunde weitergibt. Denn wenn er seine Philosophie vermitteln kann und eine gesamte Kultur erlebbar macht, so kann er eine Veränderung bewirken. Und diese ist nachhaltig.
High Jungle
YACON DUCK COFFEE / 1250 Meter
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