Was Sergio Herman jungen Küchenchefs rät – und warum er wieder hinter dem Herd stehen will
Der Grenzgänger
Sergio Herman holte in seiner kulinarischen Pilgerstätte Oud Sluis im niederländischen Sluis sage und schreibe drei Michelin-Sterne und 20 Gault-Millau-Punkte. Als rastloser Tüftler wollte er immer einen Schritt weiter gehen – und will das auch heute noch. Warum der härteste Mentor der internationalen Spitzengastronomie die Schließung seines mittlerweile legendären Gourmettempels bereut und warum er ausgerechnet inmitten der Corona-Pandemie ein neues Restaurant eröffnete, erzählt er im Exklusivinterview.
Du hast das Oud Sluis 1990 von deinen Eltern übernommen, die es bereits zu einem bekannten Restaurant für Meeresfrüchte etabliert hatten. War es etwas, das du immer schon machen wolltest – oder hattest du anfangs gesagt: Ich werde nie im Leben Küchenchef.
Sergio Herman: Am Anfang machte ich mir viele Gedanken. Ich habe ja drei Schulen begonnen, von denen ich keine einzige abschloss. Aber irgendwann hat es für mich klick gemacht. Ich habe ein Praktikum in einem holländischen Zweisterner absolviert und die Leute dort – von den Küchenchefs bis zu den Besitzern – gaben mir mit ihren guten Vibes zu spüren, dass ich einen guten Job mache. Und natürlich: Ich bin in der Küche groß geworden, inmitten von Hummern, Muscheln und dem Ganzen. Schon als Kind habe ich außerdem an den Wochenenden und in den Ferien im Restaurant meiner Eltern gearbeitet.
Der Grenzgänger
Sergio Herman holte in seiner kulinarischen Pilgerstätte Oud Sluis im niederländischen Sluis sage und schreibe drei Michelin-Sterne und 20 Gault-Millau-Punkte. Als rastloser Tüftler wollte er immer einen Schritt weiter gehen – und will das auch heute noch. Warum der härteste Mentor der internationalen Spitzengastronomie die Schließung seines mittlerweile legendären Gourmettempels bereut und warum er ausgerechnet inmitten der Corona-Pandemie ein neues Restaurant eröffnete, erzählt er im Exklusivinterview.
Du hast das Oud Sluis 1990 von deinen Eltern übernommen, die es bereits zu einem bekannten Restaurant für Meeresfrüchte etabliert hatten. War es etwas, das du immer schon machen wolltest – oder hattest du anfangs gesagt: Ich werde nie im Leben Küchenchef.
Sergio Herman: Am Anfang machte ich mir viele Gedanken. Ich habe ja drei Schulen begonnen, von denen ich keine einzige abschloss. Aber irgendwann hat es für mich klick gemacht. Ich habe ein Praktikum in einem holländischen Zweisterner absolviert und die Leute dort – von den Küchenchefs bis zu den Besitzern – gaben mir mit ihren guten Vibes zu spüren, dass ich einen guten Job mache. Und natürlich: Ich bin in der Küche groß geworden, inmitten von Hummern, Muscheln und dem Ganzen. Schon als Kind habe ich außerdem an den Wochenenden und in den Ferien im Restaurant meiner Eltern gearbeitet.
Das ist der einzige Weg an die Spitze: Training, Training, Training.
Wenig überraschend und doch aufschlussreich: Sergio Hermans Zugang zum Küchengemetzel geicht dem eines Leistungssportlers
Wie kann man sich deine Anfangszeit nach der Übernahme vorstellen? Ließ dir dein Vater freie Hand oder schaute er dir die ganze Zeit über die Schulter?
Herman: Zu Beginn hat er mir schon regelmäßig in den Arsch getreten. Dadurch habe ich aber auch viel gelernt. Die erste Zeit war aber sicher nicht einfach. Vor allem, weil die Leute ja wegen der Muschelkreationen meines Vaters gekommen waren. Ich erinnere mich, wie ich an einem der ersten Abende vor dem Fenster stand und sehnsüchtigst darauf wartete, dass auch nur ein einziges Auto vorfährt und vor dem Restaurant parkt. Wir hatten keine einzige Reservierung, keine einzige! Davor hatten meine Eltern 200 Kuverts am Tag! Mit seinen Muschelgerichten in Weißweinsauce hatte es mein Vater zu Bekanntheit gebracht. In den Monaten, in denen wir keine Muscheln hatten – also von April bis Juni, Juli –, nutzte ich also die Gelegenheit, um mich zu beweisen und eigene Gerichte zu kreieren. Jeden Tag habe ich mich selbst bis aufs Äußerste gepusht. Irgendwann sagte mein Vater: „Okay, du hast schon Talent. Vielleicht ändern wir das Konzept auf deinen Küchenstil.“ Hinter dieser Entscheidung steckte aber eher meine Mutter. Sie war mir gegenüber immer weniger kritisch als mein Vater.
War deine Ambition von Anfang an, das Restaurant zu einem der besten der Welt zu machen?
Herman: Was heißt das, das beste der Welt? Und wer ist das, der Beste? Das ist eine große Frage, vor allem heutzutage. Dadurch, dass ich in einem kleinen Ort in Südholland arbeitete, weit weg von irgendwelchen Städten und auch ohne viele Stationen hinter mir zu haben, konnte ich mich einfach stark auf mich selbst und meinen eigenen Stil konzentrieren. Ich war wie in einer Bubble, das war perfekt. Ich habe mich selbst die ganze Zeit gepusht. Ich wollte immer besser und besser und besser werden. Egal wie, wo, was: Ich suche nach der absoluten Perfektion, ganz gleich, ob’s um Saucen geht oder um das Austernputzen. Da ist einfach dieses Biest in mir.
Gab es diesen Moment, in dem du wusstest: Ab jetzt wird es richtig gut laufen?
Herman: So richtig rundgegangen ist es nach dem ersten Michelin-Stern im Jahr 1995. Da ist das Restaurant plötzlich explodiert. Reservierungen mussten neun Monate im Voraus getätigt werden. Das war völlig verrückt.
1999 folgte der zweite Stern und von 2005 bis zur Schließung des Oud Sluis kochtest du unfassbare drei Sterne. Gerät man da in ein Hamsterrad? Hat dir in dieser Zeit das Arbeiten immer Spaß gemacht? Oder gab es einen Punkt, wo du sagtest: Jetzt wird’s zu viel!
Herman: Am Anfang ist man der Kapitän eines Speedboats. Alles geht sehr schnell und jeden Tag muss es noch schneller gehen, jedes Detail noch besser sitzen – weil jedes Detail eben doch ein Detail ist. Damals gab es keinen Weg zurück. Aber irgendwann einmal wird es schwierig – weil man, wie zum Beispiel ich, Kinder hat. Ich habe vier davon, das ist heute natürlich ein anderes Leben. Damals war ich ausschließlich auf meine Arbeit konzentriert. Heute arbeite ich ebenfalls hart – auch als Vater –, aber eben nicht mehr nur in der Küche.
Was war dann der ausschlagebende Punkt, 2013 diesen Schritt zu gehen und das Oud Sluis zu schließen?
Herman: Es klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich habe mich gegen Ende so gefühlt, als ginge ich in eine Fabrik. Ich wusste genau, was passiert – und das jeden Tag. Ich wusste genau, was es zu tun gibt. Womit ich anfange. Womit ich aufhöre. Wir waren eben ein 3-Sterne-Restaurant in einem kleinen Dorf, in dem es ansonsten nichts gibt außer Süßigkeitenläden und Sex-Shops. Es war nicht nur ein täglicher Kampf um Qualität, sondern auch um Raum. Als ich mit meinem Vater begonnen hatte, waren wir drei, vier Leute. Am Schluss waren wir 18 Leute in der kleinen Küche. Es war auch so, dass ich keine weiteren Ziele mehr hatte. Ich bin jemand, der es braucht, ein Ziel vor Augen zu haben, damit ich mich selbst immer härter pushen kann. Aber damals hatte ich das Gefühl, nichts mehr zu spüren. Ich hätte woanders hingehen können, sicher. Aber das Oud Sluis war eine Familiensache, die von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Ich habe mich dann dazu entschlossen, auf dem Höhepunkt aufzuhören. Hinzu kam, dass mein Vater krank geworden war. Das gab den letzten Ausschlag. Zu sehen, wie sich mein Vater durch Alzheimer veränderte, veränderte gleichzeitig auch meine Perspektive auf viele andere Dinge. Auf meine Kinder und meine Familie beispielsweise. Das war dann der Punkt, an dem ich gesagt habe: genug.
Gibt es Momente, in denen du die Schließung bereust?
Herman: Natürlich, jeden Tag. Wirklich, ich denke jeden Tag an diese Zeit, die so einzigartig war. Auch an all die Leute, die in der letzten Zeit in der Küche waren. Ich hatte das, was man ein „Golden Team“ nennen kann. Trotzdem muss ich sagen: Mein Leben ist seit der Schließung besser. Und doch muss ich auch sagen: Ich vermisse diese Momente in der Küche, in denen auf einem so hohen Level zusammengearbeitet wurde.
Dein Restaurant hat eine Vielzahl an Top-Chefs hervorgebracht. Darunter Tohru Nakamura, Arne Anker, Nick Bril oder Syrco Bakker. Du warst dafür bekannt, als Chef nicht besonders zimperlich zu sein. Muss das so sein, wenn so viele kreative Leute auf einem Haufen zusammenarbeiten?
Herman: Zuerst einmal: Ich war, wie gesagt, der Kapitän auf einem Speedboat. Das muss man fahren können. In einer Küche ist es einfach so, dass gewisse Dinge so und so laufen müssen. Wenn du nicht zuhörst oder dich das nicht interessiert, kannst du dich gleich verpissen. Ganz einfach. Klar, oft hieß es von meinen Leuten, dies oder das sei unmöglich. Ich habe immer gesagt: Wir machen es – wir können und wir werden. Und wir haben es jedes Mal geschafft. Ich habe ja nicht immer nur mich selbst gepusht, sondern mein ganzes Team. Wenn ich mir heute alte Video-Ausschnitte ansehe – wie zum Beispiel vom Film „Fucking Perfect“ –, weiß ich natürlich, dass ich das heute nicht mehr so machen würde. Das war damals eine Hardcore-Phase.
Gibt es etwas, was du rückblickend anders machen würdest?
Herman: Na ja. Im Nachhinein ist es immer einfach zu sagen, was man eventuell besser hätte machen können. Ich bin überzeugt: Wenn du heute als Chef Talent hast und in deinem Job wirklich etwas bewirken willst, dann musst du dich jeden Tag aufs Neue selbst übertreffen. Jeden Tag bin ich aufgestanden, habe in den Spiegel geschaut und gewusst: Ich muss heute das Beste für mich und mein Team geben. Das ist der einzige Weg an die Spitze: Training, Training, Training. Es muss immer heißen: besser, besser, besser.
In der Zwischenzeit wurdest du von einem Top-Chef zu einem Top-Entrepreneur, hast international viel beachtete Restaurants wie den Zweisterner The Jane in Antwerpen, das Pure Sea oder auch Casual-Konzepte wie das Frites Atelier gegründet. Was ist deine Rolle in all den Konzepten?
Herman: Mit dem The Jane war ich zwei Jahre lang im Vorfeld beschäftigt, bis es langsam Form annahm. Es ging mir dabei darum, eine neue Perspektive auf Fine Dining zu entwickeln. Dort kombinieren wir – mit Nick Bril als Küchenchef – Essen mit Musik, Kunst, Design und Fashion. Bei jedem neuen Projekt, das ich im Kopf habe, denke ich über mehr nach als nur über das, was auf dem Teller landet. Heute gehört das einfach dazu. Es ist auch für mich persönlich wichtig, verschiedene Säulen zu haben und damit mehr Leute zu erreichen – Stichwort Fine Fast Food oder Fine Casual. Verschiedene Konzepte für verschiedene Leute zu haben. Essen in einer unkomplizierten Atmosphäre, das ist ein Stück weit sicher die Zukunft.
Zu Beginn hast du ja im The Jane und dem Pure Sea einmal die Woche gekocht – ist das immer noch so?
Herman: Ich mache es immer öfter. Auch, weil ich es immer mehr vermisse, in der Küche zu sein. Ich entwickle auch immer wieder neue Gerichte und versuche, im Dialog mit den jeweiligen Küchenchefs zu bleiben, um meine Ideen mitzuteilen.
Inwiefern hat deine Entwicklung vom Küchenchef zum Gastronomen deine Perspektive auf die Branche verändert?
Herman: Als Gastronom stellst du viel klarer fest, wie schnell sich das Leben da draußen und der Fokus von den Leuten verändern. Die Auswirkungen von Social Media beispielsweise zeigen, wie schnell alles geht – und dass man da selbst mithalten muss. Man kann heute kein Konzept mehr auf die Beine stellen und davon ausgehen, dass das jetzt für die nächsten zehn bis 15 Jahre lang funktioniert. Man muss es immer verändern, ihm immer einen neuen Look verpassen, einen neuen Vice kreieren. Dafür muss man heute über den Tellerrand hinausschauen. Vor allem: Ein Gericht ist heute weit mehr als ein Gericht. Als ich vor 30 Jahren begonnen habe, gab es nichts außer der Kochbücher der größten französischen Starköche. Du musstest nach Paris oder sonst wohin reisen, um diese Gerichte zu sehen, die Atmosphäre des Restaurants zu fühlen. Das Betreten eines Restaurants war etwas Einzigartiges. Heute weißt du über Instagram sofort alles über ein Restaurant, kennst das Menü und weißt vielleicht sogar, wie die Küche dort aussieht. Das Geheimnisvolle ist ein wenig verlorengegangen.
Als jemand, der so viele Auszeichnungen bekommen hat: Welche Bedeutung haben Preise?
Herman: Natürlich ist es wichtig für einen jungen Chef, Sterne, Punkte oder einen guten Platz in einem Ranking zu bekommen. Du brauchst es und das gibt dir oft die Energie, die du vor allem in den ersten Jahren brauchst. In dieser Phase kann es Gold wert sein, etwas zurückzubekommen, und dass dir jemand sagt: Du machst einen guten Job. Andererseits sollten vor allem junge Chefs nicht zu sehr auf Social Media achten. Ich rate jedem: Bleib bei dir, bleib einzigartig. Think outside the box.
Innerhalb der Gastronomie wird es ja immer schwieriger, gute Leute zu finden. Mit dem Trend zur Work-Life-Balance, den viele Arbeitnehmer fordern, befindet sie sich als Branche im Umbruch. Wie gehst du damit um?
Herman: Die jungen Leute wollen heute reisen, drei bis vier Tage die Woche arbeiten – oder noch besser: arbeiten, wann und von wo sie wollen. Das ist natürlich schwierig. Trotzdem glaube ich, man sollte sich als Gastronom in dieses Mindset der Millennials hineinversetzen – sie sind eben einfach so. Denn gleichzeitig kann man wie ich der Überzeugung sein, dass man immer einen harten Kern von eingefleischten Leuten in seinem Team hat, die nicht totzukriegen sind. Die brauchst du. Egal ob in der Küche, im Service oder im Management. Wenn du in einem Team von 20 Leuten auch nur fünf Leute hast, die richtig Eier haben, die eine Vision haben, Geschmack und einen Sinn für Perfektion, dann strahlen sie das auf das ganze Team aus. Und natürlich musst auch du selbst dein Bestes geben, damit du die Millennials mit deiner Leidenschaft ansteckst, damit du ihnen zeigst, wie man für seine Leidenschaft lebt. Damit kann man Gold holen.
Du hast inmitten der Corona-Pandemie ein neues Restaurant eröffnet – das Le Pristine in Antwerpen. Wie war das?
Herman: Es war für alle herausfordernd – und zwar nicht nur in Bezug auf das Le Pristine, sondern auf alle meine Restaurants. Schlussendlich hatte ich aber mehr Zeit, um mit meinem Team im Le Pristine zu kochen und die Gerichte zu perfektionieren. Eigentlich wollten wir ja im Mai eröffnen, schlussendlich wurde es Anfang Juli. Auch hatten wir mehr Zeit, dem Interieur den allerletzten Feinschliff zu verpassen. Ich finde, man merkt diesen letzten Push dem Restaurant an …
Die Corona-Krise also als etwas, das dir eine gewisse Entschleunigung verschaffte?
Herman: Es war auf jeden Fall gut, mich auf das Le Pristine konzentrieren zu können. Natürlich: In solchen Zeiten geht es auch darum, das richtige Mindset zu haben und positiv gestimmt zu bleiben. Das Einzige, was man tun kann, ist damit umzugehen. Klar, es war auch schön, mehr Zeit zu Hause mit meinen Kindern zu verbringen. Aber jetzt ist es auch wieder schön, kochen zu können und jeden Tag im Le Pristine hinter dem Herd stehen zu können. Vielleicht genieße ich es jetzt noch mehr als vor Corona.
Wie man munkelt, wird es ein neues Restaurant von und mit dir als Head Chef geben. Was kannst du uns darüber verraten?
Herman: Ich bin noch sehr stark damit beschäftigt und es ist noch nicht wirklich spruchreif. Geplant ist jedenfalls, einen Pavillon bei mir in der Region zu eröffnen. Es soll etwas Persönliches sein, etwas, wohin die Leute gehen, als würden sie mich besuchen kommen. Ich werde dort selbst kochen, mit einem kleinen Team von drei, vier Leuten. Es wird maximal 20 Kuverts geben und dieses kleine Restaurant wird nur zehn Tage im Monat geöffnet sein. Es wird etwas Neues sein für mich, etwas Persönliches und gleichzeitig der nächste Schritt. Es wird eine Art Oud Sluis 2.0. Die Küchenlinie wird das Terroir meiner Region ausdrücken, es wird um das Produkt an sich gehen. Auch mein Vater hat sich sein Leben lang damit beschäftigt. In den letzten Jahren habe ich mir vorgenommen, jetzt noch einmal mein Bestes zu geben, um wieder richtig zu kochen. Um so zu kochen, dass ich selbst es wieder richtig fühlen kann. Letzten Endes ist und bleibt das Kochen meine wahre Leidenschaft.