Genesis am Reißbrett

Heston Blumenthal war Anführer einer Bewegung, die so nie gedacht war, schrieb ein Gegen-Manifest und bringt seitdem Leute zum Weinen. Sein nächster Schachzug: Bewusstseinserweiterung ohne Drogen.<br />
November 13, 2015

Genesis am ReissbrettPorträts: Jacqui Melville, Foodbilder: Sergio Coimbra

Weltbekannt zu sein, ist jetzt nicht das Schlechteste, was einem Koch im Laufe seiner Karriere passieren kann. Happig wird es nur, wenn man zu einer Ikone hochstilisiert wird in einer Sache, die man so nie unterstützt hätte. Das kann man dann als dumm gelaufen bezeichnen – oder man nützt die neugewonnene Bekanntheit, um sich für die Sache einzusetzen, die einem wirklich wichtig ist. Ein bisschen so wie…

Genesis am ReissbrettPorträts: Jacqui Melville, Foodbilder: Sergio Coimbra

Weltbekannt zu sein, ist jetzt nicht das Schlechteste, was einem Koch im Laufe seiner Karriere passieren kann. Happig wird es nur, wenn man zu einer Ikone hochstilisiert wird in einer Sache, die man so nie unterstützt hätte. Das kann man dann als dumm gelaufen bezeichnen – oder man nützt die neugewonnene Bekanntheit, um sich für die Sache einzusetzen, die einem wirklich wichtig ist. Ein bisschen so wie eine Kindergärtnerin, die Prinzessin wurde, um dann Minenopfern zu helfen. Anderes Business, aber gleiches Prinzip. Heston Blumenthal. britischer König der Molekularküche, der selbige bereits vor Jahren für tot erklärte.

Er hätte die Krone auch niemals angenommen, wäre er gefragt worden, und so, wie der Molekular-Trend gelaufen ist, hätte er ihn auch niemals als seine Kopfgeburt bezeichnet. Im Gegensatz zu den Journalisten weltweit. Klingt ja als Begriff auch griffig und ist ein verkaufsförderndes Label, wenn man eine Geschichte über einen Koch verkaufen möchte, der als Gaumenreiniger zu Beginn des Menüs in Stickstoff pochierte Aperitifs in den Geschmacksrichtungen „Vodka und Lime Sour“, „Gin and Tonic“ sowie „Tequila und Grapefruit“ servieren und Pommery-Senf-Eis in einer Blaukohl-Gazpacho folgen lässt. Aber in diesem Fall ist das Label „Molekulare Küche“ eben einfach nur das. Ein nichtssagender Name, der von dem ungarisch-britischen Tieftemperaturphysiker Nicholas Kurti anno 1992 kreiert wurde.

Heston Blumenthal Damals war der bereits pensionierte Oxfordprofessor auf der Suche nach einem Überbegriff für seine aktuelle Forschung, die sich auf die strukturelle Ebene der Kochprozesse bezog, die Gastrophysik. Als „Kitchen Science“, als „Küchenwissenschaft“, bekam er keinen Fuß in die Tür. Deswegen: „Molecular Gastronomy“ – Molekularküche. 20 Jahre und einen Mega-Hype später hatte sich der wissenschaftliche Gedanke, der die chemischen und physikalischen Reaktionen bei Kochprozessen analysieren sollte, in der allgemeinen Auffassung auf Schäumchen und Stickstoff reduziert. Ein umfassendes Werkzeug, das Köchen helfen sollte, Texturen, Garpunkte und Konsistenzen zu verbessern, ist zu einer allgemeingültigen Stilistik aufgestiegen.

Etwas, das Heston Blumenthal noch immer bitter aufstößt. „Der Ansatz, den Köche wie Ferran Adrià, Thomas Keller und auch ich dabei verfolgten, ging nie von einer kreativen Perspektive aus. Es war Mittel zum Zweck. Doch irgendwie hat sich das dann verselbstständigt und junge Köche meinten, dass das der einzige Weg wäre zu kochen. Schön, nur wissen die eigentlich gar nicht, was sie da machen. Das war so wie bei der Nouvelle Cuisine. Da ging es auch nicht darum, nur zwei grüne Bohnen und ein kleines Stück gebratene Ente auf den Teller zu legen. Aber die Mehrheit der Köche hat einfach nur die Portionen kleiner gemacht und gedacht, damit hätten sie es begriffen.“

Was Blumenthal und Konsorten eigentlich bezweckten war: mit den Erkenntnissen der Wissenschaft und neuen Geräten, die diese Erkenntnisse umsetzen konnten, Gerichte zu kreieren, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Ein bisschen Wow-Feeling schaffen, die eigenen Grenzen der Kreativität weiter zu pushen. Gas geben. Doch dann kam der Side-effect zu tragen: Die Küchen wurden viel technikorientierter und die emotionale Komponente war raus. „Wir sind Köche, und unsere Arbeit ist es, Essen zu kochen, Leute satt und glücklich zu machen. Ein Schaum macht niemanden glücklich. Der hat nur als Milch auf dem Kaffee eine echte Bedeutung.“

Vor sieben Jahren platzte Heston Blumenthal endgültig der Kragen und er schrieb gemeinsam mit vorher genannten Granden der modernen Küche ein Statement. Dass das nun als Manifest bekannt ist, entstand aus der schriftstellerischen Freiheit eines Journalisten heraus – Blumenthal meinte, dass diese Bezeichnung doch ein bisschen zu großspurig wäre. Bei dem Statement ging es den Koch-Allstars nicht darum, den anderen Köchen ans Bein zu pinkeln, sondern Gemeinsamkeiten hervorzuheben und nicht das, was sie gedanklich und in ihren Fähigkeiten voneinander trennen würde. Sie formulierten, dass man sich vielleicht nicht zu sehr auf einzelne Teile des neu erworbenen Wissens konzentrieren und wesentliche Teile dabei zu ignorieren unterlassen sollte.

Teekanne

„Wir verwenden vielleicht moderne Dickungsmittel, Enzyme, Zuckerersatz, Dehydration und andere nicht traditionelle Techniken, aber diese definieren nicht unseren Stil. Das sind nur einige der Werkzeuge, die uns glücklicherweise zur Verfügung stehen, um delikate und stimulierende Gerichte zu kreieren.“ Und da, vor sieben Jahren, verwendete Blumenthal schon das eine Wort, das er heute versucht, in Reinform in der bald renovierten Fat Duck umzusetzen. Stimulation. Die entscheidenden Komponenten dazu: Geschichte, Nostalgie, Emotion und Erinnerung. Denn seines Erachtens nach, ist der Vorgang des Essens der einzige, bei dem alle Sinne – riechen, schmecken, fühlen, sehen und hören – angesprochen werden. „Wir können uns nicht über all diese Technik-Gadgets definieren.

Früher war das Messer das einzige Werkzeug, um Gemüse kleinzubekommen. Heute haben wir Zentrifugen und Exsikkatoren. Die Assoziation zur Küche fehlt bei diesen Geräten vielleicht, aber Herrgott, es ist immer noch Kochen. Technik, kein Stil und kein Konzept.“ Und genau da legt Blumenthal die neue Richtlinie für seine neue Küche an, die seines Erachtens nach die Zukunft der Gastronomie bestimmen wird: multisensorische Erlebnisse, die durch Gerichte transportiert werden können. Bekanntestes Beispiel: „Sound of the sea“. Ein Gang seines Fat-Duck-Menüs, bei dem die nostalgische Erinnerung an einen Tag am Meer wachgerufen werden soll. Dass das Hijiki, Messerscheidemuscheln, Austern und Seeigel auf einer „Sandbank“ in der „Brandung“ alleine nicht gelingt, sollte klar sein. Dass der iPod, versteckt in einer Megamuschel, den Trick vollbringt, klingt dabei ein bisschen zu einfach.

Stimmt allerdings, doch dahinter steckt, wie bei allem was Blumenthal angeht, jede Menge Forschung – und ein Schlüsselerlebnis: Wein im sonnenbeschienenen Loiretal mit Vogelgezwitscher im Hintergrund getrunken, berauscht gewesen – selber Wein daheim im Wohnzimmer, nur ein Gedanke: Unfassbar, dass man diesen Heckenklescher gekauft hat. Das kennt jeder. Heston erkannte aber, dass der Kontext der Schalter ist, an dem wir festmachen, ob wir etwas als gut oder schlecht einstufen. Blumenthal untersuchte dieses Phänomen gemeinsam mit der Psychologischen Fakultät der Oxford University. Konkret den Zusammenhang von auditiven Signalen, also Geräuschen, und dem Geschmackserlebnis.

Wer Anstoß an den modernen Techniken nimmt der darf konsequenterweise auch nur mehr auf Feuer kochen das er mit selbstgesammeltem Holz entfacht hat.
Heston Blumenthal über Zukunftspolemik

Erst mit einem bestimmten Ton – dem mahlenden Geräusch beim Kauen – und dem Gefühl der Knackigkeit eines Crackers. Je lauter der Ton, desto mehr Biss hatte der Cracker für die Probanden. Dieses macht sich Blumenthal nun zunutze. Denn im Gegensatz zu einem Bild oder einem Foto, bei dem nur die Personen, die unmittelbar an dem Gezeigten beteiligt waren, kann man Geräusche als emotionalen Trigger für die Mehrheit der Gäste nutzen. Blumenthal ging bei dem Kreieren davon aus, dass ein Großteil seiner Gäste bereits Erinnerungen an einen Strandtag hat. Welche, ist an dieser Stelle nicht relevant, wichtig ist nur, dass sie vorhanden sind. Einfach gesagt: „So wie bei einem Lied, das im Radio läuft. Der eine denkt vielleicht daran, dass er dabei seinen Partner das erste Mal geküsst hat, und die Person daneben, wie bei dem Lied mit ihr Schluss gemacht worden ist. Fakt ist, dass beide aber gedanklich in diese Situation zurückgeholt werden.

Geräusche haben das große Potenzial, direkte Emotionen auszulösen – egal an welchem Ort man sich befindet.“ Als ein Gast bei „Sound of the sea“ zu weinen begonnen hat, wusste Blumenthal, dass er hier etwas geschaffen hatte, dem er jahrelang auf der Spur war: Stimulation aller Sinne. „Die Qualität und Art, wie das Gericht zusammengestellt ist, muss natürlich immer Priorität haben, damit es funktioniert. Aber die zusätzlichen Sinne, die wir als Köche so lange nicht miteinbezogen haben, sind das größte Tool und Werkzeug, um den Gast emotional zu erreichen. Denn darum geht es: einen Restaurantbesuch zu einem Erlebnis werden zu lassen, das einmalig ist – und richtig Spaß macht.“

Und damit unterscheidet sich Blumenthal von seinen spanischen Gedankenbrüdern, für die der Gast, wie es manchmal bereits scheint, eher zur Nebenfigur in ihrer kulinarischen Selbstverwirklichung wird. Für Blumenthal steht der jedoch an der Spitze. Vielleicht auch, weil er weiß, wie das ist, wenn kein Geld in der Kasse ist. In dem Moment, in dem er seinen dritten Michelinstern verliehen bekam, saß er gerade über den Rechnungen und überlegte, wie er sein Team in diesem Monat auszahlen könnte. Diese Zeiten sind vorbei – auch dank publikumswirksamen TV-Auftritten und der Eröffnung weiterer Lokalitäten wie dem Pub The Hinds Head in direkter Nachbarschaft zur Fat Duck in Bray mit insgesamt 136 Plätzen und dem Perfectionists Café am Terminal 2 des Londoner Flughafens Heathrow, bei dem 150 Couverts am Tag über den Tresen gehen.

Fat Duck GerichteZudem ist er Namensgeber des Dinner by Heston Blumenthal im Mandarin Oriental in London, bei dem aber Ashley Palmer-Whatts, langjähriger Wegbegleiter und ehemaliger Küchenchef der Fat Duck, in der verglasten Showküche steht. „Der Plan war nie, dass ich dort bin, das sollten die Leute auch nicht erwarten. In der Duck stehe ich auch seit einer Rücken-OP vor acht Jahren, wenn überhaupt, auf der anderen Seite des Passes.“ Dort habe er auch gelernt, ein ausgeglichenerer Chef zu sein, meint Blumenthal und wird nicht müde zu erklären, dass, wenn Fehler passieren, immer er schuld sei. Und das aus drei Gründen: „Das Resultat stimmt nicht, weil ich die falsche Person dafür eingesetzt habe.

Meine Schuld, ich habe sie eingestellt. Was ich erwartet habe, war zu ambitioniert. Meine Schuld, ich habe den Mitarbeiter falsch eingeschätzt. Der Mitarbeiter ist richtig eingesetzt, aber die Ergebnisse stimmen nicht? Meine Schuld, ich habe ihn zu wenig trainiert. Seitdem ich das verstanden habe, ist mein Leben wesentlich unkomplizierter geworden. Und in der Küche brülle ich auch nicht mehr herum. Bringt nichts. Wenn Fehler passieren, muss das einmalig sein, aber es ist mein Job, das hinzubekommen.“ Bei mittlerweile 250 Angestellten, das Dinner ausgenommen, klingt das auch recht ambitioniert. Aber das ist sowieso alles, was Blumenthal in Angriff nimmt.

Während Renovierungen im Gebäude der Fat Duck unternommen werden, packt Blumenthal seinen gesamten Staff und das Tasting Menü und übersiedelt in der Zeit nach Melbourne, in das Crown Towers Hotel in Southbank. Nach der sechsmonatigen Schließung soll das multisensorische Erlebnis aber ungebremst weitergehen, mit dem Unterschied, dass die Küche mehr Platz bekommt und deswegen ein Tisch weniger im Restaurant sein wird. „Diese fünf Couverts werden mich im Jahr einige tausend Euro kosten. Aber alleine der Qualität willen, muss ich diesen Schritt gehen.“

Ob Blumenthal Angst hat, dass er in seiner konzeptionellen Auffassung eines perfekten Restaurantbesuches nicht den Horizont seiner Gäste übertrifft? „Ich will alle meine Gäste erreichen, ich würde lügen, wenn nicht. Ich will nicht bis zu 21 Stunden am Tag gearbeitet haben, damit man mir dann den Vogel zeigt. Durch meinen Ansatz der multisensorischen Küche, der modernen Aufarbeitung der historischen Rezepte und der ungewöhnlichen Präsentation, die spielerisch und verzaubernd sein kann, erreiche ich, zumindest hoffe ich das, fast jeden Gast und kann ihn inspirieren. Wenn ich diese Fähigkeit eines Tages nicht mehr habe, dann ist es an der Zeit, aufzuhören.“

www.fatduck.co.uk

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