Wie Helmut Pöschel aus dem Würchwitzer Milbenkäse ein Kultprodukt machte

Manchmal steckt in Käse mehr als nur Milch: Von Milben über Maden bis zu Kalbsmägen feiern alte Käsetraditionen ein Revival – auch wenn sie vielerorts verboten sind. Warum lebende Maden erst recht für Cremigkeit sorgen – und Milbensekret effizienter als Viagra ist.
Mai 6, 2021 | Text: Lucas Palm | Fotos: Christian S., Shutterstock, beigestellt

Was ist der Würchwitzer Milbenkäse genau?

Käse ist ein tierisches Produkt.  Kühe, Ziegen, Schafe – all diese Vierbeiner versorgen den Menschen bekanntlich seit Jahrhunderten mit Milch, die von uns Zweibeinern zu Käselaiben verarbeitet wird. So weit, so harmlos.

Dass das tierische Element im Käse jedoch Ausmaße annehmen kann, das weit über Kühe und Schafe hinausgeht, ist weniger bekannt. Oder tabuisiert. Oder eben beides. Man könnte jetzt lange über das Leben der Schimmelpilzarten von Roqueforts, Stiltons und Camemberts referieren. Oder über die Mägen von Kälbern, aus denen das Lab für die Käseherstellung gewonnen wird. Aber es geht eben noch, sagen wir, gewöhnungsbedürftiger. Mit Milben beispielsweise. Oder Maden.

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Helmut Pöschel ist pensionierter Biologie- und Chemielehrer – und in seinem ostdeutschen Dorf Würchwitz mittlerweile eine
internationale Sensation.

„Dieser Käse hat seinen Ursprung in erster Linie wegen seiner Haltbarkeit“, erklärt Helmut Pöschel. Der pensionierte Biologie- und Chemielehrer belebt seit etwa 15 Jahren eine fast verloren gegangene Tradition neu: die Herstellung des sagenumwobenen Würchwitzer Milbenkäses. Seinem Geschäftspartner Christian Schmelzer und ihm selbst ist es zu verdanken, dass das sachsen-anhaltische Dörfchen Würchwitz ordentlich von sich reden macht.

Viagra ist ein Scheißdreck dagegen!

Helmut Pöschel über die Tugenden des aromatischen Milbensekrets im Würchwitzer Milbenkäse

Was ist der Würchwitzer Milbenkäse genau?

Käse ist ein tierisches Produkt.  Kühe, Ziegen, Schafe – all diese Vierbeiner versorgen den Menschen bekanntlich seit Jahrhunderten mit Milch, die von uns Zweibeinern zu Käselaiben verarbeitet wird. So weit, so harmlos.

Dass das tierische Element im Käse jedoch Ausmaße annehmen kann, das weit über Kühe und Schafe hinausgeht, ist weniger bekannt. Oder tabuisiert. Oder eben beides. Man könnte jetzt lange über das Leben der Schimmelpilzarten von Roqueforts, Stiltons und Camemberts referieren. Oder über die Mägen von Kälbern, aus denen das Lab für die Käseherstellung gewonnen wird. Aber es geht eben noch, sagen wir, gewöhnungsbedürftiger. Mit Milben beispielsweise. Oder Maden. 

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Helmut Pöschel ist pensionierter Biologie- und Chemielehrer – und in seinem ostdeutschen Dorf Würchwitz mittlerweile eine internationale Sensation.

„Dieser Käse hat seinen Ursprung in erster Linie wegen seiner Haltbarkeit“, erklärt Helmut Pöschel. Der pensionierte Biologie- und Chemielehrer belebt seit etwa 15 Jahren eine fast verloren gegangene Tradition neu: die Herstellung des sagenumwobenen Würchwitzer Milbenkäses. Seinem Geschäftspartner Christian Schmelzer und ihm selbst ist es zu verdanken, dass das sachsen-anhaltische Dörfchen Würchwitz ordentlich von sich reden macht.

Viagra ist ein Scheißdreck dagegen!

Helmut Pöschel über die Tugenden des aromatischen Milbensekrets im Würchwitzer Milbenkäse

Die New York Times war da, die Washington Post, die ARD. Alle möchten sie – wie auch wir an einem dieser ersten Frühlingstage dieses Jahres – wissen, wie er schmeckt, dieser von Milben zerfressene Käselaib. Wie er produziert wird. Und warum er immer mehr Menschen weit über den klassischen Gourmet hinaus begeistert. „Noch zu Zeiten des Sozialismus gab es einen regelrechten Kampf zwischen den Dörfern, wer denn das originellste Lebensmittel hat“, erinnert sich Pöschel. Für Würchwitz hielt eine einzige Frau die kulinarische Fahne hoch.

Liesbeth Brauer war in den 1970ern die Einzige, die – privat, also für den Eigenbedarf – den Milbenkäse herstellte. Die DDR hatte den Handel damit aus hygienischen Gründen verboten. Die Milben, die ihrem Käse diesen einzigartigen Geschmack verliehen, wären nach Brauers Tod beinahe für immer verschwunden – hätte Pöschel ihre „alte Munitionskiste“, wie er sagt, samt ihrer Millionen Mini-Einwohnern nicht übernommen. Die deutsche Käseverordnung, so Schmelzer, verbiete zwar streng genommen bis heute, „vermilbte Lebensmittel in Umlauf zu bringen“.

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Über 100.000 Milben knabbern mindestens drei Monate am sogenannten Milbenkäse herum.

Doch seit die in der EU mächtigen Franzosen im Jahr 2006 die Anerkennung ihrer nationalen Milbenkäse-Variante – des Mimolette – durchboxen konnten, dürfen auch Pöschel und Schmelz ihren Käse in Umlauf bringen. „Vorausgesetzt“, so Schmelzer, „wir schicken die Sachen einmal im Jahr ins Hygiene-Labor. Außerdem kommt die Hygiene einmal im Jahr auch zu uns, um alles zu kontrollieren.“ Um zu verstehen, warum um ein einzelnes Lebensmittel so viel politjuristisches Aufhebens gemacht wird, lohnt sich ein Blick in die Produktionsstube Helmut Pöschels. 

Viagra ist Nichts dagegen 

Alles beginnt mit Bio-Quark. Pöschel würzt ihn ordentlich mit Salz und Kümmel, lässt ihn anschließend an der Luft trocknen. „Wenn man ihn davor nicht presst, dauert das Trocknen länger“, so Pöschel, „aber in der Regel dauert es nach dem Pressen in etwa zwei Tage, bis er richtig getrocknet ist.“ Der getrocknete Quark wird jetzt in die charakteristische Käseform gerollt und nochmals für einen Tag getrocknet, damit so etwas wie eine „Außentrockenheit“ entsteht.

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Für Gourmets gilt: Je länger die Milben am Käse herumknabbern, desto dunkler, intensiver und natürlich kleiner wird er, wie auf dieser Käsevariation zu sehen ist.

„Aber diese Formen dürfen nicht zu trocken sein“, warnt Pöschel, „denn sonst gehen die Milben nicht mehr ran. Das ist das Komplizierteste und das Um und auf bei der Produktion: diesen richtigen Moment abzuwarten.“ Die Käseformen kommen jetzt in die kleinen Holzkisten, wo sie den Milben förmlich zum Fraß vorgeworfen werden. „An so einem Käse knabbern rund 100.000 Milben wie die Blöden herum.

Mindestens ein Vierteljahr, wobei für Gourmets gilt: je länger, desto besser.“ In einigen Käselaiben kreuchte und fleuchte es auch schon über zwei Jahre lang. Dabei werden die Milben regelmäßig mit Roggenmehl gefüttert, weil sie den Käse ansonsten zur Gänze aufessen würden. Nach einem Monat färbt sich das Äußere des Käses gelb. Nach drei Monaten ist es bereits von rötlichem Braun. Nach zwei Jahren hingegen ist der Käse fast schwarz. Aber was genau machen die Milben mit dem Käse? 

Das ist das Komplizierteste und Um und Auf!

Milbenkäsepapst Helmut Pöschel über den richtigen Zeitpunkt, zu dem der noch feuchte Bio-Quark den Milben zum Fraß vorgeworfen wird 

Einerseits wirken sie durch ihre Verdauungssäfte mit bei der Fermentation, also der kontrollierten Gärung. Andererseits sorgen sie für den charakteristischen Zitrusgeschmack des Milbenkäses. Biologen der TU Darmstadt fanden heraus, dass diese Zitrusaromen auf ein abschreckendes Wehrsekret der Käsemilben zurückzuführen sind. Das Sekret besteht unter anderem aus Neral, einem Hauptbestandteil von Zitronenöl.

„Dadurch“, erklärt Pöschel, „dass wir den Käse jeden Tag umdrehen, findet eine Erschütterung statt, die die Milben dazu bringt, dieses Sekret zu absorbieren. Das bringt uns letztlich auch diesen unverkennbaren Geschmack.“ Was den Mythos betrifft, wonach der Würchwitzer Milbenkäse als Aphrodisiakum wirken soll, sagt Pöschel: „Einfach mal ausprobieren!“, um schließlich mit der Sprache herauszurücken: „Viagra ist ein Scheißdreck dagegen!“ 

Tiere von Menschenhand 

Wer glaubt, die milbenfeindliche DDR sei ein Relikt aus prüden Kulinarikzeiten, wird in Sardinien eines Besseren – oder eben Schlechteren – belehrt. Seit 2005 ist dort die heimische Käsedelikatesse namens Casu Marzu laut EU-Lebensmittelrecht verboten. Das liegt nicht nur daran, dass Casu Marzu auf sardisch „verdorbener Käse“ bedeutet, sondern dieser Schafskäselaib bei der Reifung auf Eier der sogenannten Käsefliege angewiesen ist. Klingt eigentlich genauso eklig, wie es auch aussieht.

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Nicht mit Milben, sondern mit Maden: Der sardische Madenkäse namens Casu Marzu ist neuerdings in der EU verboten. Zu unhygienisch, so die Begründung.

Diese Eier, die die Fliege der Art Piophila casei auf dem Käse ablegen, enthalten Maden, die in den Schafskäse eindringen, sich dort von ihm ernähren – und das Gegessene gleich wieder verdauen. Dadurch erhält der Käse eine cremige Konsistenz und sein typisches, forderndes, sehr kräftiges Aroma. Dass zum Zeitpunkt des Verzehrs die aromengewaltigen Maden noch lebendig sind und sich vor dem Auge – und im Mund – des Essenden drehen und wenden, macht diesen Käse für den Großteil der nichtsardischen Konsumenten nicht sonderlich appetitlich.

Dass die Maden außerdem gegen die menschliche Magensäure resistent sind und damit im Verdauungstrakt weiter ihr Unwesen treiben können, ist wohl mit ein Grund für das EU-weite Produktions- und Vertriebsverbot. 

Allgegenwärtige Kalbsmägen

Zugegebenermaßen: Milben und Maden gehören doch zu den exotischeren Tieren, die einem Käselaib seinen unverwechselbaren Geschmack, oder eben seine Illegalität, verleihen. In unseren Breiten wird hingegen klassisch auf Kalbsmägen gesetzt. Dort nämlich findet sich das Zauberenzym – das Lab –, das das Eiweiß der Milch so spaltet, dass sie eindickt, ohne jedoch sauer zu werden. Kurz: Die strukturierte Cremigkeit vieler heimischer Käse ist Kalbsmägen zu verdanken.

Das zeigt ein Besuch bei Rudi Steiner in der Nähe von Wörgl. Der Produktionsleiter des berüchtigten Tiroler Felsenkäses schüttet einen großen Kessel Lab in den riesigen Kanister, in dem die Heumilch bereits verrührt wird. In der Produktionshalle rattert und klappert es wie in einer durchoptimierten Fabrikhalle.

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In einem der bekanntesten Käseläden Deutschlands bekommt man von Käseveredler Volker Waldmann alles, was das Käseherz begehrt. Waldmann verkaufte seine Käsekreationen – darunter ein Ziegenkäse mit Portwein verfeinert – um mehrere Tausend Euro in die Arabischen Emirate. Außerdem beliefert er die Spitzengastronomie.

„Sobald die Oberfläche des großen, runden Milchkessels glatt abbricht, ist der Schnittzeitpunkt erreicht. Daraufhin schneidet eine große Käseharfe die durch Lab gelierte Milch-Masse, bis die richtige Struktur erreicht ist. In Steiners Produktionswerk ist zwar alles mechanisiert, doch bei genauer Betrachtung verrichten Maschinen hier nur in größeren Dimensionen das, wofür menschliche Hände länger bräuchten. Flinke Zylinderscheiben drücken die Felsenkäse-Laibe heraus, die anschließend ins Salzbad kommen.

Dort erhalten sie ihr würziges Aroma, bevor sie nach zwei Tagen Ruhezeit nach Wörgl kommen und im legendären Felsenkeller gelagert werden. Das Kalk-Schiefer-Gestein bietet dem Käse optimale Bedingungen: Eine 95-prozentige Luftfeuchtigkeit und neun Grad sorgen für eine gleichmäßige Reifung, die durch den Käsemeister Hans händisch betreut wird: 60 bis 70 Schmierzyklen pro Käse werden hier mit routinierten Bewegungen vollbracht, damit die Rinde über die Zeit die passende Konsistenz und Aromenvielfalt entwickelt. Ja, Käse ist ein tierisches Produkt. In mehrfacher Hinsicht, wie wir gesehen haben. Doch nur durch Menschenhand wird es eben zu etwas Besonderem.

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