Tim Mälzer: Fleischfetisch und Vegetarismus in der neuen Bullerei
Der Fetischist
Es wird gehämmert und geschraubt, gebrutzelt und getan: In Tim Mälzers Bullerei laufen zum Zeitpunkt unseres Exklusivinterviews die Vorbereitungen für die lang ersehnte Neueröffnung auf Hochtouren. Ein halbes Jahr lang wurde das gastronomische Mutterschiff des Hamburger Erfolgsgastronomen und TV-Stars kernsaniert. Dabei blieb nach elf Jahren kein Stein auf dem anderen: Neben einer rosaroten „Fetisch-Metzgerei“ im alten Kaminzimmer wird die Bullerei um eine nordische Karte mit mehr regionalen Produkten erweitert – und im Deli nebenan ist gleich alles neu. Warum Tim Mälzer gerade in dieser schwierigen Zeit damit Gastro-Geschichte schreiben könnte und warum Restaurantessen nicht hypergesund sein sollte, verrät Mr. Kitchen Impossible in unserem Exklusivinterview.
Der Fetischist
Es wird gehämmert und geschraubt, gebrutzelt und getan: In Tim Mälzers Bullerei laufen zum Zeitpunkt unseres Exklusivinterviews die Vorbereitungen für die lang ersehnte Neueröffnung auf Hochtouren. Ein halbes Jahr lang wurde das gastronomische Mutterschiff des Hamburger Erfolgsgastronomen und TV-Stars kernsaniert. Dabei blieb nach elf Jahren kein Stein auf dem anderen: Neben einer rosaroten „Fetisch-Metzgerei“ im alten Kaminzimmer wird die Bullerei um eine nordische Karte mit mehr regionalen Produkten erweitert – und im Deli nebenan ist gleich alles neu. Warum Tim Mälzer gerade in dieser schwierigen Zeit damit Gastro-Geschichte schreiben könnte und warum Restaurantessen nicht hypergesund sein sollte, verrät Mr. Kitchen Impossible in unserem Exklusivinterview.
Tim, wir sind hier in der fast schon neuen Bullerei, wo die Umbauarbeiten auf Hochtouren laufen. Ein idealer Ort, um nicht nur über die Bullerei 2.0 zu sprechen, sondern überhaupt über Gastronomiekonzepte der Zukunft.
Tim Mälzer: Ich glaube ja, dass es schlauere Köpfe gibt, um darüber zu sprechen, aber ich stehe gerne dafür bereit. Ich habe ja zur Genüge bewiesen, dass bei mir sehr viel Licht, aber auch sehr viel Schatten ist.
Wo ist Licht, wo ist Schatten?
Mälzer: Licht ist auf jeden Fall einmal in meinem Stammhaus, der Bullerei. Hier betreibe ich eine Art Gastronomiekonzept ohne Konzept, das sich in den letzten Jahren zu Recht am Markt behauptet hat. Schatten hingegen sehe ich bei konzeptionellen Ideen wie beispielsweise dem Hausmanns in Düsseldorf, dem Off Club in Bahrenfeld oder auch in einem Restaurant in New York, das nie das Licht der Welt erblickt hat. Aber jemand, der viel macht, macht eben auch viel falsch.
Ist nicht gerade die große Kunst, sich als jemand Erfolgsverwöhnter rechtzeitig Misserfolge einzugestehen? Es gehört doch eine gewisse Härte dazu, ab einem bestimmten Punkt zu sagen: Nein, so geht es nicht mehr weiter.
Mälzer: Ich glaube, das wird in der nächsten Zeit die ganz große Herausforderung für viele Gastronomen sein. Die besonderen Umstände, unter denen wir in letzter Zeit arbeiten, werden wohl viele dazu bringen, über einzelne ihrer Betriebe nachzudenken und sich einzugestehen: Es geht nicht weiter, es ist vorbei. Ich mache mir Sorgen, dass da vieles zeitverzögert stattfinden wird. Denn viele Gastronomen sind Herzenstäter. Sie glauben an das, was sie machen. Und dafür riskieren sie oft ihre gesamte wirtschaftliche Lebensgrundlage. Dass man dann immer länger doch noch mit dem Kopf durch die Wand will, kann gefährlich werden und zu Situationen führen, die ich persönlich auch schon durchgemacht habe.
Der Umbau der Bullerei war keine Reaktion auf die Coronakrise. Trotz allem ist es ein mutiger Schritt, gerade jetzt wiederzueröffnen. Die Situation könnte ja schwieriger nicht sein.
Mälzer: Ja, die Sanierung wurde von langer Hand geplant. Als die Krise begonnen hat, machte ich mir Hoffnungen, dass im Oktober, wenn also wiedereröffnet wird, die Situation so sein wird, dass wir alle besser damit umgehen können. Zum Beispiel mithilfe von allgemeingültigen Regelwerken oder indem wir die Pandemie irgendwie im Griff haben. Jetzt ist es so, dass wir uns genau zum Zeitpunkt der Eröffnung in einer neuen Phase der Verunsicherung befinden. Wir eröffnen trotzdem, aber natürlich unter strikter Einhaltung aller Bestimmungen. Ob das mutig ist? Mutig ist man doch erst, wenn man seinen Feind kennt und wenn man weiß, wie stark der Herausforderer ist – und man nur wenige Chancen gegen ihn hat. Aber jetzt ist es ja so, dass die Wiedereröffnung schlicht und ergreifend notwendig ist. Wir hatten für den Umbau schließlich einen Invest-Plan, der unter der Bedingung einer normal praktizierbaren Gastronomie berechnet worden ist. Die Bullerei zeichnet sich bekanntlich durch eine fröhliche, kommunikative Atmosphäre aus. Die meisten Maßnahmen, die wir treffen müssen, verhindern das aber eher. Das sind Herausforderungen, mit denen wir keine Erfahrungen haben. Es wird also auf unsere gelebte Praxis ankommen.
Schaut man den Leuten dann aber aufs Maul, hält sich keiner dran. Wirklich niemand, auch die ganzen Profis nicht.
Wasser predigen, Fleisch essen: Die wenigsten halten sich laut Tim Mälzer an ihre selbst propagierte Reduktion des Fleischkonsums
Die Atmosphäre eines Restaurants ist ein Kernpunkt eines Restaurantbesuchs. Wie kann man sie in dieser Zeit dennoch erschaffen, trotz aller Hindernisse?
Mälzer: Unser Konzept besteht ja nicht primär in der Zelebration reiner Nahrungsaufnahme. Bei uns ist es ein buntes Sammelsurium von Eindrücken, die die Gäste auf- und mitnehmen. Jetzt aber geht es um Stell- und Sitzpläne, um Plexischeiben, Mundschutz, um Desinfektionsmittel, Namenslistungsführung und so weiter. Bis auf den Mindestabstand ist auch alles ohne große wirtschaftliche Einbußen umsetzbar. Das liegt daran, dass man Raum nicht unermesslich erweitern kann. Man muss sich also als Gastronom neu mit seinen Räumen auseinandersetzen. Wenn du fünf Zweiertische nebeneinandersetzen möchtest, brauchst du entweder Plexischeiben – dann ist es halt so ein bisschen wie im Internetcafé, finde ich persönlich jetzt nicht so geil – oder du kriegst auf einer Strecke von zwölf Metern gerade mal zehn Leute gesetzt. Um es ganz klar zu sagen: Das ist wirtschaftlich katastrophal. Was geht: Du kannst zehn Leute aus mehreren Haushalten an einen Tisch setzen. Dann kannst du jeweils links und rechts noch zwei hinsetzen, das geht ja mit Mindestabstand. Da gilt es, sich solche Dinge genau anzuschauen. Und nicht die Leute einfach blind wo hinzusetzen. Damit kann man atmosphärisch versuchen, das Beste herauszuholen. Man muss eben wie ein Dirigent an der Atmosphäre arbeiten. Jetzt ist der Moment, in dem es noch größerer Gastgeberfähigkeiten bedarf. Jeder, der schon einmal geheiratet hat, weiß, was ich meine: Es geht um Tischplanung. Wenn Tante Helga nicht mit Onkel Holger kann, dann setze ich sie nicht nebeneinander. Wer kann mit wem? Wie funktioniert’s am besten? Das ist doch das, was Gastronomie ausmacht. Nicht das Konzept an sich – sondern wie ich mein persönliches Konzept so gestalte, dass es bei den Leuten ankommt.
Wer dich kennt, weiß, dass du dir über Konzepte viel Gedanken machst. Was, glaubst du, können andere Gastronomen aus deiner neuen Bullerei mitnehmen?
Mälzer: Die Schließung war aufgrund eines Sickerwasserschadens zwingend notwendig, sodass wir fast alles rausreißen mussten. Dadurch ist natürlich alles teurer, als wenn wir einfach das Konzept neu definiert hätten. Jedenfalls geht es bei einer Neukonzeptionalisierung darum, sich seinen Laden einmal genau anzuschauen und sich dabei auf seine Stärken zu besinnen. Sich also konkret zu fragen: Was sind die Stärken meines Restaurants? Was macht seine Atmosphäre aus? Geht es um Produkte? Um Preis-Leistung? Um die Lage? Um einen selber? Ums Licht? Dann braucht man auch eine Minus-Liste. Was also läuft nicht gut? Womit kämpft man? Womit tun sich Mitarbeiter schwer? Dann geht es darum, das Plus zu erhalten und das Minus zu ändern. Bei mir war es so, dass die Küche an ihre Grenzen gekommen ist aufgrund der – natürlich sehr erfreulichen – Entwicklung des Ladens. Wir hatten einfach ursprünglich für wenige Gäste geplant. Also haben wir sie komplett rausgerissen und eine neue hineingegeben, die wirklich unseren neuesten Ablaufgedanken entspricht. Doch letzten Endes darfst du nie die Frage vergessen: Für wen mache ich das alles? Wer sind meine Gäste – und wen möchte ich als Gast wirklich haben? Für uns ist klar: Unsere Gäste sind Menschen, die mit Genuss am Leben teilhaben, vielleicht auch eine gewisse Begeisterung für meine Person haben aufgrund meiner medialen Aktivität, und die Essen wertschätzen – aber nicht mit einer Intellektualität, mit der jedes Gramm Salz in eine Philosophie umgewandelt wird. Der nette Italiener um die Ecke eben.
Das Gefühl, das man hat, wenn man es so sieht, geht in Richtung zeitgemäßes Wirtshaus.
Mälzer: Wir haben ursprünglich die Bullerei gestartet, indem wir gesagt haben: Es soll ein Lieblingsrestaurant sein. Der Begriff Restaurant ist ja – zumindest in Deutschland – irgendwie immer noch ein ziemlich schwerer. Fragt man jemanden auf der Straße: „Gehen wir ins Restaurant?“, dann ist wohl die erste Frage: „Ist das teuer?“ Mit dem Begriff Pizzeria ist es etwas anderes. Da besteht keine Hemmschwelle. Die Bullerei war immer schon etwas zwischen Lieblingsitaliener und Restaurant. Wenn man das jetzt nach außen irgendwie kommunizieren müsste, dann würde ich sagen, es ist ein zeitgenössisches Wirtshaus. Es ist ein Raum mit einer gewissen Größe, der eine nachvollziehbare, emotionale, deutlich erkennbare Küche in Kombination mit Handwerk serviert und dabei versucht, möglichst wenig Hemmschwellen aufzubauen.
Neu ist das Deli mit dem Namen Das Schwarze Schaf. Damit sprichst du auch die wachsende Zielgruppe an Vegetariern an.
Mälzer: Das ist falsch. Ich gebe damit nur dem sonst so leeren Gewäsch einen gewissen Inhalt. Bei jedem Symposion oder Event, auf dem ich bin, heißt es immer: Wir müssen weniger Fleisch essen, und wenn, dann nur richtig gutes. Schaut man den Leuten dann aber aufs Maul, hält sich keiner dran. Wirklich niemand, auch die ganzen Profis nicht. Weil nach wie vor vegetarische Küche als Verzichtsküche betrachtet wird.Das ist bei mir grundsätzlich anders. Pasta, Tomatensauce, Mozzarella, Bratkartoffeln – da denkt bei mir doch keiner an Verzicht. Aber eines müssen wir uns abgewöhnen: Dem Gesundheitsdogma im Restaurant zu folgen. Denn Restaurantessen ist nicht hypergesund. Es ist meistens zu fettig. Es ist meistens zu salzig. Und es ist meistens zu süß. Aber es ist eben lecker! Das Schwarze Schaf ist jetzt eine Pop-up-Location, damit wir die Denkstruktur erweiternde Konzepte anbieten können, deren bisherige Auslegung uns noch nicht so ganz gefällt. In diesem Fall sagen wir: weder Fisch noch Fleisch. Das Wort Vegetarismus benutzen wir nicht. Stattdessen kann es auf Folgendes heruntergebrochen werden: Fressen, Saufen, Ficken – aber mit Gemüse. Darum geht es: eine lustvolle Küche, die weder Fisch noch Fleisch ist.
Was ist dein Favorit auf der Karte vom Schwarzen Schaf?
Mälzer: Wir haben sehr an der Begrifflichkeit gearbeitet und sämtliche Begriffe gestrichen, die auch nur ansatzweise darauf hindeuten könnten, dass das Gericht vegetarisch ist. Wir haben eine Art Eigenentwicklung betrieben, die dicht an der alten römischen Pizza ist. Also vorgebacken und leicht fluffig. Es ist eine Mischung aus römischer Pizza und einem orientalischen Gebäck – und das mit deutscher Brotbackkultur kombiniert, also mit Sauerteig. Das Gericht heißt, zumindest Stand jetzt, Flat Breath. Und niemand, der das isst, würde jemals denken, dass das beispielsweise mit Rind richtig geil wäre. Du nimmst es, es spricht dich emotional an und es ist klar, dass es Genuss- und nicht Verzichtsküche ist. Das ist momentan wohl das Ding, das am meisten das Konzept erklärt.
Könntest du dir eine Entwicklung in Richtung vegan auch vorstellen?
Mälzer: Wir haben das Schwarze Schaf ja bewusst als Pop-up definiert, um zu schauen, wo das Bedürfnis des Gastes hingeht. 40 Prozent unserer Umsätze haben wir vor dem Umbau mit Burger und Bolognese gemacht. Als wir die Bullerei gegründet haben, habe ich gesagt: „Ein Gericht wird nie von der Karte verschwinden, nämlich die Bolognese.“ Jetzt ist sie verschwunden. Man sieht also, auch ein alter Hund kann dazulernen. Es ist an der Zeit, diesen alternativen Ernährungskonzepten ein fröhliches, buntes und allgemeingültiges Gesicht zu verleihen, damit es auch einmal massenkompatibel wird.