In der Küche des Bullen

Michael Nährer bei „El Maestro“ Ferran Adrià. Er muss 15 kg Oliven entkernen, produziert gefriergetrocknete Grapefruitfilets, erfährt unvergessliche Geschmackserlebnisse und richtet Teller an, über die die Welt redet.
November 13, 2015

Ferran Adrià
Ein Interview und Porträt des Molekularpapstes finden Sie bei ROLLINGPIN.TV

ein Kuechenteam arbeitet mit hoechster PraezessionDas ist es nun, das beste Restaurant? Die Keimzelle des Geschmacks? Zwei Autostunden jenseits von Barcelona, um nicht zu sagen kurz vor dem vermeintlichen Ende der Welt in Roses, sind Gerald Angelmahr und ich vor dem El Bulli gelandet. Unsere Siege bei den „jungen wilden“ haben es möglich gemacht. Aber jetzt, wo ich hier stehe, ist mir das Herz ein bisschen in die Hose gerutscht, um ganz ehrlich zu sein. Man fühlt sich wie vor einer großen Mathematikprüfung.
Luxus wird kleingeschrieben, auf geschätzten 4 mal 4 Metern mit knapp 50 weiteren Köchen ziehen wir uns um, zu dritt teilt man sich einen Kleiderhaken. Auf Steinstiegen sitzend, warten wir vor der Küche, bis die Chefs kommen. Kurz werden wir aus den Gedanken gerissen – ein dunkelhaariger kleiner Mann huscht an uns vorbei. Tatsächlich: das war Ferran Adrià! Im Gänsemarsch geht es in die Küche, wir müssen in Reihen Aufstellung nehmen, dann werden die Produktionsteams (mit je einem Demichef) gebildet. Die Stimmung knistert, die Konzentration ist spürbar, der große Respekt ist allen in die Augen geschrieben.
Dann geht es los, unsere erste Aufgabe heißt: 15 kg Oliven entkernen! Interessanter Start – was man im besten Restaurant der Welt alles machen muss … Also nütze ich die Zeit, um die Leute und das Rundherum zu beobachten, allerdings schwer möglich. Hinter und vor mir heißt es permanent „Kemu!“, „Kemu!“, was so viel heißt wie „Achtung, heiß!“. Man ist quasi unter Dauerbeschuss der „Kemu“-Rufe, mindestens 20-mal pro Minute. Perfektion und Schnelligkeit sind eben oberste Priorität, wir arbeiten alle mit höchster Anspannung.

Ferran Adrià mit ernstem Blick Der Big Bulli
Adrià steht meist mit strenger Miene in nicht mehr ganz neuen Jeans, geländegängigen Schuhen und Kochjacke vorne und unterhält sich bloß mit seinen drei Küchenchefs. Wir werden von ihm nur begrüßt und verabschiedet. Ab und zu setzt er sich und kritzelt etwas auf seine Zettel wie Mozart, der sich in einer durchwachten Nacht eine Komposition abringt. Zurzeit arbeitet er an einem neuen Kochbuch, er experimentiert viel mit neuen Methoden und kreiert mindestens zwei neue Gerichte pro Tag. Alles wird gekostet (z. B. das Innenleben von Seegurken!), die wenigsten Kreationen schaffen es dann tastächlich auf die Teller. Angeblich kommen pro Saison von 5000 Gerichten nur rund 50 auf die Karte.
Tag für Tag kommen nicht nur Journalisten und Fernsehteams, sondern auch Gäste unter Regie eines Dirigenten in die Küche, um begeistert wie Japanerhorden Fotos zu machen und einige Häppchen kosten zu können. Kaum sind sie weg, wird es wieder extrem leise in der Küche. Wie auf einem Fließband werden auf zehn Stationen die Teller angerichtet – einer gibt das Fleisch drauf, der andere die Soße, der Letzte die Deko. Beim ersten Teller schaue ich noch zu, den zweiten muss ich schon selbst anrichten. Ich arbeite auf Hochtouren. Jeder Gast bekommt 30 Teller, ergibt 1500 insgesamt – und alles darauf hat eine akribisch genaue Anordnung. Jeder Winkel, jede Länge, jeder Soßenklecks muss perfekt passen. Natürlich muss ich mir immer anhören, dass ich alles falsch mache.

Explosionen auf dem Gaumen
Nebenbei versuche ich zu kosten, wo es geht, und muss immer wieder staunen. Wir machen Ravioli aus Algen, verwenden vom Pyrenäen-Milchlamm nur den Schwanz, von chinesischen Pilzen nur den Stiel und bereiten mit Spezialisten aus Asien eigene fermentierte Sojasoßen zu, die so viel Power haben, dass ein einziger Tropfen auf dem Gericht reicht. Wir produzieren auch Wassergelee-Ravioli, gefüllt mit Pimientoskernen. Bei uns in Österreich sind Paprikakerne ein Abfallprodukt, im El Bulli sind sie Stars.
Aus einem Science-Fiction-Streifen entsprungen scheint der Gefriertrockner, immerhin im Wert eines 1.-Klasse-Sportwagens: Grapefruitfilets und Schäume werden damit außen knusprig und innen flüssig. In der Mikrowelle (!) stellen wir Bisquit mit Wasabi und schwarzem Sesam her, dann werden junge Kokosnüsse geschält und entsaftet – das Ergebnis stößt jede Kokosmilch der Welt vom Thron. Ein anderes Mal mixen wir ein Kilo Estragon und zentrifugieren die Masse. Was für eine Essenz! Und ich darf an die Maschine zur Alginatkapselherstellung und produziere mit Sepiatinte eingefärbten Olivenölkaviar. Das ultimative Geschmacks­erlebnis ist aber ein Öl, das nach Steinen schmeckt! Wer allerdings glaubt, es rauche und schäume im El Bulli an allen Ecken und Enden, den muss ich enttäuschen: Adrià arbeitet vergleichsweise viel (rund 30 Prozent) mit Texturas, Verbindungen und Gelees, aber nur 3 Prozent aller Bulli-Gerichte entstehen mit rauchendem Stickstoff. Der Rest ist höchste klassische Küche.

zwei Mitarbeiter des elBulli mit dem Stierkopf, ihre Haende an dessen Hoernern Teamwork ohne Gehalt
Mich wundert immer wieder, wie top geplant alles abläuft. Selbst nach jedem Personalessen gibt es genau einen Espresso und eine kurze Rauchpause, selbst die Klogänge sind genau geregelt. Übrigens, das Personalessen ist auch eine ganz eigene Sache: Erstens, weil wir dazu in der Küche mit fixer Platzordnung auf Plas­tikgartenmöbeln sitzen, zweitens, weil ganz selbstverständlich auch der Chef persönlich mitisst – und drittens, weil zum Glück nicht jeden Tag das Gleiche auf den Tisch kommt. Einmal bekommen wir Cordon bleu mit Ofenerdäpfeln, dann wieder Makrelenfilets (und zwar an dem Tag, als die Gäste Makrelenbauchlappen serviert bekommen), Paella oder Hühnerkeulen. Keine Bulli-Menüs, aber nicht schlecht. Während der Gespräche finde ich heraus: Nur 10 Köche werden bezahlt, knapp 50 schuften für einen Händedruck. Manche arbeiten die ganze Saison ohne Lohn, bekommen nicht einmal Wohnung oder Auto und ­fahren oft per Anhalter ins Hotel. Aber man darf nicht vergessen, dass die Köche, die hier zum Pis­tazienenthäuten oder Muschelnaufbrechen verdonnert werden, in ihren Ländern oft echte Stars sind. Sie werden sich den Trip also wohl leisten können …
Mittlerweile sind die sprachlichen Barrieren fast schlimmer als die in der Küche, doch bei Adrià darf ohnehin nicht viel gesprochen werden. Kaum ist das letzte Gericht beim Gast, beginnt auch schon das Putzen, gegen Mitternacht enden die Tage im El Bulli meist. In der Küche zumindest, denn wer hier dazugehören will, nimmt noch ein, zwei, drei Bier an der El Bulli-Staff-Bar im Garten, wo sich von den Küchen- und Demichefs über die Köche bis hin zu den Abwäschern alles in lockerer Atmosphäre trifft. Nur Ferran Adrià nicht, er fährt immer mit dem Taxi nach Hause, Auto besitzt er keines.
An der Staff-Bar kommt man mit der Zeit immer mehr mit den Englisch sprechenden Köchen ins Gespräch und ich werde auch in die internen Gruppenbildungen eingeweiht: Es gibt die „Spanier“, die „Englischsprechenden“, die „Latinos“, die „Asiaten“ und die „Schlümpfe“ – die Außenseiter, die sich in der Gruppe nicht durchsetzen konnten.

Wieder auf dem Boden
Zum Schluss haben sich „Kemu!“, „Concentración!“, „Silencio!“ und „Per­fección!“ schon eingebrannt, wird mir fast fehlen … Bei der Verabschiedung drückt mir Ferran Adrià freundlich mein Zertifikat in die Hand, ich lasse noch sein Buch von ihm signieren, dann geht es auch schon wieder zurück nach Österreich. Back auf dem Boden sozusagen.
Resümee: Der anfängliche übergroße Respekt hat sich mit der Erkenntnis, dass in diesem vermeintlichen Olymp doch keine unsterblichen Götter am Werk sein, sondern einfach nur hochprofessionelle Kochstars, gelegt. Auch „der Bulle“ selbst ist alles andere als ein grimmiger Diktator, sondern wirkte auf mich viel mehr wie ein richtig „lieber Onkel“, der fanatisch die Welt der Kulinarik erforschen will. Und: Die „Molekularküche“, die wir in der Heimat produzieren, ist ein nett gemeinter Versuch, ein bisschen vom Zauber à la Adrià auch in unsere Küchen zu holen – aber eben doch nur ein Schäumchen dessen, was sich in Roses abspielt …

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