Die Wurzel allen Glücks
Man merkt erst, was einem fehlt, wenn es weg ist. So ist es eben auch mit der Zeit. Der Überfluss der digitalen Welt, die Überflutung mit Informationen und Möglichkeiten, die ständige Erreichbarkeit lässt die Menschen nach Ruhe flehen. Zumindest einen Teil der Menschen. Genau dieser Teil ist eine wachsende Zielgruppe. Unmerklich zu Beginn, aber das waren Bio-Einkäufer auch. Mittlerweile ist Bio nicht mehr nur eine landwirtschafliche Variation gegenüber dem konventionellen Anbau, sondern eine Lebenseinstellung, die einfach besser schmeckt. Die Lebensqualität steigt. Das hält der Politikwissenschaftler Andre Wilkens aus Berlin in seinem Buch „Analog ist das neue Bio“ fest. Es ist kein Verzicht, sich von digitalen Hilfsmitteln für einen bestimmten Zeitraum zu trennen, sondern eine Bereicherung durch bewusste Zeit und direktes Erleben. Eben analog.
Das Analoge Ich fordert seine Freiheit zurück: Die neue Zielgruppe schwimmt gegen den Trend der Digitalisierung und will zurück zum Ursprung. Eine Zielgruppenanalyse.
Die Diebe der Zeit
Ein Food-Foto auf Instagram, ein Gruppenfoto für Facebook, ein Tweet auf Twitter mit Bit.ly-Link zum Restaurant, eine Bewertung auf Tripadvisor … Jede Aktivität wird multimedial geteilt. Bevor dann endlich der erste Bissen im Mund landet, ist er lange kalt. Zu dem Ergebnis kommt auch ein Restaurant in New York: Viele Teller gingen zurück, weil sie nicht die gewünschte Temperatur aufwiesen. Und die Wartezeiten waren auch länger. Eigenartig, dachten sich die Restaurantbetreiber, und wühlten in alten analogen Videoaufnahmen. Es hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Bänder von 2004 nach der Digitalisierung zu löschen. Ein Vergleich zwischen 2004 und 2014 war möglich und verblüffend zugleich.
Kalt waren die Speisen nicht, weil Service- oder Küchenpersonal ihre Aufgabe schlechter als vor zehn Jahren machten. Nein, es dauerte einfach alles länger: Bevor die Speisekarte geöffnet wurde, senkten sich die Köpfe über die Smartphones. Statt nach acht Minuten wie im Jahr 2004, bestellten die Gäste erst nach 21 Minuten. Die Gründe: WIFI-Passwörter erfragen, Probleme mit der Verbindungen bemängeln, Fotos aufnehmen. Ein Drittel der Gäste machte im Schnitt vier Minuten lang Gruppen- und Food-Fotos. 29 von 45 Gästen fragten sogar das Servicepersonal, ob es ein Foto machen könnte, womit sie fast fünf Minuten beschäftigt waren. 20 Prozent, gegenüber fünf Prozent im Jahr 2004, gaben dann nach dem Shooting das Essen zum Aufwärmen in die Küche zurück. Hätten sie sofort begonnen zu essen, wäre das Hühnchen auch nicht kalt gewesen. Zusammengefasst war die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Restaurant fast doppelt so lang. Ein Spiel, das jedem Gastro-Mitarbeiter bekannt vorkommen wird. Das Ergebnis ist nur ein Beispiel für den Zeitdiebstahl, den das Smartphone oder Tablet wie ein heimtückischer Handtaschendieb perfektioniert hat.
Offline-Zeit ist Nicht nur die Idee, alte Zeiten aufleben zu lassen, sondern ein Lebensgefühl.
Einsicht ist der erste Schritt
Die Digitalisierung ist ein Merkmal des 21. Jahrhunderts. Dazu gehören außerdem die weltweite – digitale und analoge – Vernetzung, technisierte Abläufe, maschinelle Unterstützung. Was fehlt, ist die Seele. Der selbst gemachte Apfelkuchen mit dem Obst vom Nachbarsbaum und dem von der Oma gekneteten Teig, das angeschlagene Blumengeschirr, eine persönliche, hangeschriebene Einladung, eine raschelnde Zeitung – all das hat Seele. Diese Seele existiert nicht erst, seitdem die Hipster-Jutebeutel-Träger ihre selbst gemachte Rhabarber-Basilikum-Limonade aus recycleten Einmachgläsern schlürfen. Trotzdem kommt gerade das – auch bei unbejutebeutelten – Gästen immer besser an. Back to Basics. Zurück zu den Wurzeln. Interessant wird wieder die Herkunft, das Handwerk, die Leidenschaft. Es wird achtsamer mit Lebensmitteln umgegangen und mit sich selbst. Diese Achtsamkeit braucht Zeit. Zeit, die durch digitale Teilungszwänge gestohlen wird.
Die Zielgruppe, die sich daraus bildet, versucht, der Medienabhängigkeit den Rücken zu kehren. Das sinnliche, langsame Erlebnis steht beim Brauen von individuellem Craft-Bier wie auch dem Einkochen von Gemüse aus dem eigenen Garten im Mittelpunkt. Allerdings kehren ebendiese analogen Handwerker immer wieder zu ihrer Sucht zurück: Das Einmachglas ist noch heiß und schon auf Instagram; das Foto der illustren Sitzrunde um die Maibowle aus dem garteneigenen Waldmeister schneller auf Facebook als der Strohhalm im Glas. So ist das eben mit den Süchten. Ziemlich widersprüchlich. Die digitale Welt ist die Sucht einer ganzen Generation, die sich langsam versucht aus diesen Zwängen herauszuwinden. Eine Zielgruppe, die Unterstützung verlangt.
Technik hat keine Seele. Herkunft, Handwerk, Liebe und die Menschen dahinter rücken wieder in den Fokus.
Nachfrage trifft Angebot
Die analoge Szene macht sich immer mehr bemerkbar. Hausgemachte Pâtisserie, Burgerläden mit Fleisch aus eigener Landwirtschaft, Handwerk-Workshops für Fotografie, Musik, Töpfern – die Angebote für Endverbraucher nehmen stetig zu. In Restaurants kommt dieser Trend genauso an: Nicht nur selbst gemachte Spezialitäten, auch die Entfernung von der Digitalisierung birgt großes Potenzial. Nicht das Handyverbot lockt die Gäste an, sondern die Positiv-Formulierung: „Nimm dir Zeit für dich. Sei nicht erreichbar.“ Besonders bei Business-Gästen ist dieser Trend zu verzeichnen: Immer mehr Workaholics suchen Ruhe und Meditation zum Stressabbau. Und das nicht im Urlaub, sondern bei der Arbeit. Denn auch hier wird die Zwiespältigkeit der Gesellschaft deutlich: Einerseits achtsames Auf-sich-schauen, andererseits Action in der Freizeit. Der Gedanke bleibt nicht aus, dass es vielleicht doch nur um die Resonanz und Bestätigung der Mitmenschen geht. Während sich nämlich im Urlaub abzeichnet, dass abgesicherte, vorgeplante, komfortable Abenteuerurlaube (die Pauschal-Action-Reise für sicherheitsliebende Angeber) bevorzugt werden, sollen im Alltag mehr – unerreichbar – Pausen die Arbeitsleistung verbessern und beispielsweise Burn-out-Symptome verringern. Damals liefen Manager ihren Marathon, heute meditieren sie. Das Hippie-Image haben Meditationen, Stress-Abbau-Initiativen oder Yoga lange abgelegt. Das merkt man schon daran, dass sich jede vierte große US-Firma laut Financial Times um die Stressbewältigung ihrer Mitarbeiter kümmert. In immer mehr Flughäfen sind Yoga-Räume keine Besonderheit. Auch die absolut stillen Wagons iDzen des französischen TGV, in denen Telefonierverbot herrscht, finden großen Anklang.
Die Tourismus- und Gastronomiebranche lebt vom analogen Glücksgefühl.
Wenn man als Gastronom nun also weiß, dass sich Menschen nach dieser Art von analogem Leben sehnen und es trotzdem mit anderen teilen wollen, können Angebote direkt darauf abgestimmt werden. So wie etwa aufgestellte Food-Foto-Kästen, vergleichbar mit Passbilder-Fotoautomaten, die schön beleuchtete Fotos der Gerichte im Internet zum Download bereitstellen. Oder Schließfächer für Handys am Eingang des Restaurants. Dann können sich die Gäste während des Essens auf das bewusste Genießen konzentrieren, bekommen am Ende ihres Abends trotzdem schöne Bilder und die Gastronomen ihre kostenfreie Werbung auf diversen sozialen Netzwerken. #winwin! Der Gastwirt Dschaudat Ibrahim legt sich für das Glück seiner Gäste noch etwas mehr ins Zeug. In seinem Restaurant Abu Ghosch bekommen die Gäste ihr Essen für die Hälfte des Preises, wenn sie das Handy auslassen. Selbstlose Hilfe zur Selbsthilfe der Süchtigen. Und die Sehnenscheidenentzündung im Daumen kann sich dabei auch einmal entspannen.
Die Tourismus- und Gastronomiebranche lebt heute wie damals vom analogen Glücksgefühl: Essen und schlafen sind und bleiben analog. Die Kommunikation dahinter wird ohne digitale Hilfe aber nicht mehr funktionieren. Es gilt also, eine Zwischenlösung zu finden. Für die digitallebenden Analog-Liebhaber, die sich gerne auch einmal Zeit nehmen, um nicht erreichbar zu sein. Allerdings wird es schwierig, digitale Opfer ohne Verbesserungswünsche zu einem Ausflug in die Analogie zu zwingen. Obwohl es ein großer Luxus ist, sich ab und zu von den Dieben der Zeit zu trennen. Das einzige Argument sollte sein: Analog schmeckt einfach besser.