So schmeckt die Zukunft

Der Titel von Heinz Strunks Kult-Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ wird wohl bald ins Gegenteil gekehrt. Denn Fleischersatz aus alternativen Proteinquellen hat längst dazu angesetzt, tierischem Eiweiß den Rang abzulaufen.
Juni 23, 2022 | Text: Hannes Kropik | Fotos: Shutterstock

Wir sprechen über die sagenhafte Summe von 450.000.000.000 Dollar. 450 Milliarden Dollar, umgerechnet rund 420 Milliarden Euro. Das ist die weltweite Umsatzprognose für Fleischersatzprodukte in den Jahren 2025 bis 2040, die der amerikanische Unternehmensberater Kearney in einer groß angelegten Studie errechnete.

Fleischersatz
Ein pflanzenbasierter Patty verbraucht 99 Prozent weniger Wasser.

Wir sprechen über die sagenhafte Summe von 450.000.000.000 Dollar. 450 Milliarden Dollar, umgerechnet rund 420 Milliarden Euro. Das ist die weltweite Umsatzprognose für Fleischersatzprodukte in den Jahren 2025 bis 2040, die der amerikanische Unternehmensberater Kearney in einer groß angelegten Studie errechnete.

Fleischersatz
Ein pflanzenbasierter Patty verbraucht 99 Prozent weniger Wasser.

Diese Summe soll in erster Linie zulasten der konventionellen Fleischindustrie gehen, wenn – wie von Kearney geschätzt – der Konsum tierischer Produkte in den kommenden 20 Jahren um ein gutes Drittel zurückgeht. Doch: Keine Angst. Die Fleischindustrie bleibt eine fette Cash-Cow: 2018 umfasste der Gesamtumsatz weltweit tausend Milliarden Dollar. Eine Million Millionen Dollar.

Alternative Proteinquellen

Im Wesentlichen speisen sich Fleischersatzprodukte aus zwei unterschiedlichen Quellen: pflanzenbasierte Produkte und zellbasiertes In-vitro-Fleisch aus dem Labor. Fabio Ziemßen, Vorsitzender des deutschen Bundesverbandes für Alternative Proteinquellen (BALPro) und Partner bei ZINTINUS, einem Investmentfonds für Food-Techs, sieht langfristig großes Entwicklungspotenzial in beide Richtungen. Er erwartet eine Diversifizierung des Angebots bei gleichzeitigem Rückgang der konventionellen Proteinversorgung auf tierischer Basis. „Zellbasiertes Fleisch, sogenanntes ‚Laborfleisch‘ oder ‚In-vitro-Fleisch‘, hat den Vorteil, dass es all die klassischen Eigenschaften von normalem Fleisch mitbringt und sich guten Gewissens verarbeiten und konsumieren lässt“, sagt der Protein-Experte. „Wir sprechen aber von einem Zukunftsszenario. Momentan werden erst die Infrastruktur und die Produktionskapazitäten aufgebaut, um zellbasiertes Fleisch massenhaft herzustellen.“

Zellbasiertes Fleisch bringt all die klassischen Eigenschaften von normalem Fleisch mit und lässt sich guten Gewissens verarbeiten.
Fabio Ziemßen über sogenanntes Labor-Fleisch

Erster Imagewandel gelungen

Fleischersatz auf pflanzlicher Grundlage ist hingegen schon stärker im Alltag angekommen. Nicht zuletzt, weil in jüngster Vergangenheit ein wichtiger Imagewandel gelungen ist, wie Fabio Ziemßen erklärt: „Die neue Generation alternativer Proteinquellen definiert sich nicht mehr so stark über die Ideologie; die Produkte werden wesentlich lifestyliger vermarktet. Man wird nicht mehr schräg angesehen, wenn man als Flexitarier seinen Fleischkonsum bewusst eindämmt. Das gesamte Narrativ hat sich verändert, heute wird pflanzenbasierte Ernährung mit gesunder Ernährung gleichgestellt.“

Wichtige Faktoren, die über die Akzeptanz alternativer Proteinquellen entscheiden, sind Textur und Geschmack. „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Deshalb hatten es Konsumenten in der Vergangenheit schwer, sich mit Saitan-Bratlingen abzufinden. Aber mit einer neuen Palette an Inhaltstoffen, etwa auf Basis von Mycelium, also einem Stoff aus der Pilzproduktion, gelingt es, näher an die kulinarischen Ansprüche der ursprünglichen Speisen heranzukommen.“

Fleischersatz
63 Prozent aller entwaldeten Flächen im Amazonas dienen der Rinderzucht.

Gastronomie als Booster

Eine wesentliche Rolle in der Entwicklung kommt dabei der Gastronomie zu, sagt Ziemßen. Denn einerseits muss die Küche den kulinarischen Ansprüchen des Kunden gerecht werden. „Andererseits müssen Unternehmen, die mit neuen Produkten auf den Markt kommen, die Gastronomie als Partner definieren. Denn oft haben alternative Proteinquellen andere Eigenschaften als konventionelles Fleisch. Sie lassen sich deshalb nicht eins zu eins verarbeiten und in die Arbeitsabläufe in der Küche integrieren.“ Gerade in der Wirtshausküche kommt der Faktor Tradition dazu: „Klassische Gerichte haben eine lange Geschichte. Dass die breite Masse der Konsumenten veganes Hackfleisch oder veganes Schnitzel akzeptiert, das ist ein Prozess, der seine Zeit brauchen wird.“

Gerade deshalb ist es hier aber immer noch nötig, die oft in Frage gestellte Namensgebung der Produkte beizubehalten: „Veganer müssen Sie ja nicht mehr überzeugen, die ernähren sich ohnehin pflanzenbasiert. Für alle anderen dienen Begriffe wie ‚Veganer Burger‘ oder ‚Veganes Hack‘ als Orientierungshilfe.“ Natürlich könnte man neuen Produkten gleich neue Namen geben. „Aber nehmen wir ein aktuelles Szenario: Sie sind ein klassischer Fleischkonsument und Ihre Kinder ernähren sich bereits bewusst vegan. Sie machen Ihnen immer wieder Vorwürfe, etwa wegen des hohen CO2-Abdrucks von Fleisch. Dann werden Sie vielleicht eher vegane Mettwurst
probieren. Und wenn Sie merken, dass Sie noch dazu ähnlich schmeckt wie klassische Mettwurst, wird Ihnen der Umstieg auf pflanzenbasierte Ernährung am Ende leichter fallen.“

Für Nicht-Veganer Dienen Begriffe Wie ‚Veganer Burger‘ Oder ‚Veganes Hack‘ als wichtige Orientierungshilfe.
Fabio Ziemßen, Vorsitzender des deutschen Bundesverbandes für Alternative Proteinquellen

Grundlage des Lebens

Proteine – umgangssprachlich auch Eiweiß genannt – sind Makromoleküle, die aus Aminosäuren aufgebaut sind. Der Name, den ihnen ihr Entdecker, der holländische Mediziner und Chemiker Gerardus Johannes Mulder, 1893 gegeben hat, zeigt schon die Wichtigkeit für den Organismus: Das griechische Wort „proteios“ lässt sich mit „grundlegend“ ebenso treffend übersetzen wie mit „vorrangig“.

Alles eine Frage der Proteine

Im menschlichen Körper unterstützen Proteine – unter anderem – das Immunsystem und regulieren den Blutzuckerspiegel. Sie kurbeln unseren Stoffwechsel an, helfen beim Muskelaufbau und liefern dem zentralen Nervensystem notwendige Botenstoffe. Neun der 20 verschiedenen Aminosäuren kann der menschliche Körper allerdings nicht selbst produzieren. Und weil sich Körperzellen außerdem stetig erneuern, ist eine regelmäßige Aufnahme von Proteinen über die Nahrung schlicht lebensnotwendig. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt erwachsenen Menschen eine tägliche Proteinzufuhr von 0,8 Gramm pro Kilo Körpergewicht.

Fleischersatz

Viele verschiedene Lebensmittel beinhalten – in unterschiedlich hoher Konzentration – Proteine. Neben Fleisch, Fisch, Eiern und Milchprodukten findet sich Eiweiß unter anderem in Getreide (und damit in Brot und Gebäck) beziehungsweise in Nüssen oder Hülsenfrüchten wie Erbsen, Soja und Linsen. Und deshalb bieten sich der Industrie unterschiedliche Möglichkeiten für die Versorgung mit Aminosäuren.

Das deutsche Unternehmen Endori etwa bewirbt seine Produkte mit einem Slogan, der gleich die wichtigste Zutat seines Ersatzprogramms verrät: „Das beste Fleisch, seit es Erbsen gibt.“ Zusätzlicher Hinweis für interessierte Kunden: „Ohne Soja. Ohne Palmfett. Ohne künstliche Aromen.“ Gegründet 2015 in Bamberg („aus Liebe zu gutem Essen und Hunger auf eine bessere Zukunft für Tiere, Menschen und Umwelt“) konnte die Anbaufläche für Erbsen im südlichen Rheinland mittlerweile auf 500 Hektar verzehnfacht werden; 2022 sollen rund 2000 Tonnen Erbsen aus eigener Ernte zu fleischfreien Burgern, Bratwürsten, Schnitzeln und Cevapcici verarbeitet werden. Dabei wird in der Außendarstellung nicht nur auf die kurzen Transportwege und damit den günstigen ökologischen Fußabdruck hingewiesen, sondern auch auf nachhaltige Erleichterungen für die Landwirtschaft: „Die Erbse fügt sich hervorragend in die Fruchtfolge ein und wirkt sich positiv auf unsere Böden und unser Klima aus.“

Hightech für eine bessere Welt

Das 2019 in der Schweiz gegründete Food-Tech-Startup Planted ist ein Spin-Off der ETH Zürich, einer der führenden technischen Hochschulen im deutschsprachigen Raum. Zu den Ergebnissen intensiver Forschung zählt ein innovatives Produktionsverfahren, das eine besonders lange Faserstruktur ermöglicht. Proteine aus Erbsen, Hafer und Sonnenblumen werden stark erhitzt und führen zu einer Textur, die eindringlich an tierisches Fleisch erinnern soll.

Fleischersatz

Das Unternehmen, das in einer Finanzierungsrunde im Vorjahr 17 Millionen Franken, umgerechnet 16,5 Millionen Euro, für seine internationalen Expansionspläne sammeln konnte, setzt in seinem Narrativ auf Argumente, die bestens mit der Fridays-For-Future-Philosophie harmonieren: „Wir möchten die Art und Weise, wie Fleisch wahrgenommen und konsumiert wird, global revolutionieren. Und ein grundlegendes Umdenken anstoßen, um die verheerenden Folgen der Nutztierhaltung auf unserem Planeten zu reduzieren.“

Stars als Vorkoster

Zu den weltweiten Pionieren zählt das börsennotierte US-Unternehmen Beyond Meat, das 2009 von Ethan Brown gegründet wurde. Angesiedelt in Kalifornien, wo sich (gesunde) Essenstrends besonders rasch entwickeln, hat sich das vegane Flagship längst zu einem Liebling der Unterhaltungsindustrie entwickelt: Oscar-Preisträger Leonardo DiCaprio, Rapper Snoop Dogg und die Basketball- Superstars Chris Paul und Kyrie Irving zählen ebenso zu den Investoren wie Bill Gates und Branchenriese Tyson Foods; zuletzt heuerte im Mai 2022 Kim Kardashian medienwirksam als „Chief Taste Consultant“ an.

Beyond Meat ersetzt tierische Proteine ebenfalls in erster Linie durch Erbsen, verwendet aber auch braunen Reis, Rapsöl und Kokosöl, Kartoffelstärke und Methylcellulose. Als besonderen Vorteil preist der Konzern, der die Europazentrale in den Niederlanden angesiedelt hat, seine ressourcenschonende Produktion an. Ein pflanzenbasiertes Burger-Patty erzeugt laut einer Untersuchung der University of Michigan 90 Prozent weniger Treibhausgasemissionen als ein konventioneller Rindfleischburger, verbraucht 46 Prozent weniger Energie, 99 Prozent weniger Wasser und benötigt im Anbau 93 Prozent weniger Landfläche.

Effizienz ist gefragt

Ein historischer Ursprung fleischfreier Ernährung lässt sich nicht benennen. Aber immerhin wissen wir, woher das Wort „vegan“ stammt, das den kompletten Verzicht auf tierische Produkte beschreibt. Die Basis legt tatsächlich der Vegetarismus, der in der Brockhaus-Enzyklopädie 1902/1903 erstmals als Ernährungsform definiert wurde, in der Eier, Milch, Butter und Käse erlaubt, der Verzehr von Fleisch allerdings ausgeschlossen wird. Der Engländer Donald Watson ging als Gründer der Vegan Society 1944 noch einen Schritt weiter und entfernte alle tierischen Zutaten aus seinem Speiseplan und – zur sprachlichen Abgrenzung – fünf Buchstaben aus dem englischen Wort „vegetarian“ – vegan.

Fleischfreie Nahrungsmittel sind nicht dazu geeignet, Seuchen wie BSE zu verbreiten.
Aus einer internationalen Studie von Kearney

Im Angesicht des globalen Klimawandels und der stetig steigenden Weltbevölkerung kommt der Ernährung eine besondere Bedeutung zu, erkennt auch der anfangs erwähnte Kearney-Bericht. Ausgehend von der aktuellen Entwicklung könnten nämlich im Jahr 2050 rund zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben, gut 2,2 Milliarden mehr als heute. Doch dafür bräuchte es wohl ein globales Umdenken, wenn man die Zahlen der FAO, der Food and Agricultural Organisation der UNO, betrachtet: Etwa die Hälfte der weltweiten Getreideproduktion wird heute als Futter für 1,4 Milliarden Kühe, eine Milliarde Schweine, 20 Milliarden Stück Geflügel und 1,9 Milliarden Schafe und Ziegen verwendet.

Lediglich 37 Prozent des Getreides werden direkt in Nahrungsmittel für Menschen verwandelt. Dabei braucht es rund sieben Kilo Getreide, um ein Rind um ein Kilo wachsen zu lassen, bei Schweinen sind es immerhin noch vier Kilo, bei Geflügel zwei Kilo. Die Umwandlungsrate für pflanzenbasierte Proteine gilt als wesentlich effektiver: Für ein Kilogramm Fleischersatz reichen im Schnitt 1,3 bis 1,5 Kilogramm Erbsen, Soja, Bohnen, Weizen oder Kartoffeln – bei vergleichbarem Nährwertprofil.

Fehlendes als großes Plus

Dazu könnten laut Kearney weitere prinzipielle Vorteile von Fleischersatzprodukten zu einem Umdenken und einer möglichen Agrarwende führen: Durch die bewusste Steuerung des Fettgehalts kann nicht nur die Lagerzeit im Regal verlängert werden, auch bei der Kühlung der Produkte auf dem Transport weg – Stichwort fehlende Gefahr von Bakterien wie Salmonellen oder E-Coli – findet sich großes Einsparungspotenzial. Und natürlich die Tatsache, dass fleischfreie Nahrungsmittel nicht geeignet sind, Seuchen wie BSE zu verbreiten. Von Pandemien, möglicherweise ausgehend von chinesischen Straßenmärkten, gar nicht zu sprechen …

Fleischersatz
83 Prozent der Landwirtschaftsflächen werden für die Produktion tierischer Lebensmittel beansprucht.

Hormone wären Geschichte

Schlussendlich – und darauf weisen praktisch alle Produzenten von pflanzenbasiertem Fleischersatz hin – sind es einige der fehlenden Hilfsmittel, die aus Sicht des Konsumenten ein großes Plus darstellen: Alternative Proteinquellen kommen nämlich ohne Hormonbehandlung und Medikamente aus. „Der Einsatz von Antibiotika zur Vermeidung von Viehseuchen wird beim Menschen eine Antibiotikaresistenz auslösen, was zu erheblichen Gesundheitsrisiken führen kann“, heißt es im Kearney-Report.

Dass wir uns bei aller Innovationsfreudigkeit zu sehr in kulinarischer Science Fiction verlieren, glaubt Fabio Ziemßen abschließend dennoch nicht: „Wir werden in ein paar Jahren eine wesentlich vielfältigere Lebensmittellandschaft vorfinden. Aber das Szenario, dass es Fleisch nur noch aus dem 3D-Drucker gibt, wird nicht eintreten. Ich glaube, dass wir den Pflanzen wieder mehr Raum geben und ressourcenschonender arbeiten werden. Wir werden uns von der industriellen Massentierhaltung wegbewegen und uns wieder einer ursprünglicheren Landwirtschaft zuwenden.“ Und ein schönes Stück Rindfleisch vielleicht als Beilage zu frischen Erbsen genießen.

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