Am Rande der Realität
Ein Satz kann dein ganzes Leben verändern.“ Das hat Ferran Adrià gesagt. Weil es ihm so passiert ist. Im Fall von Avantgarde-Papst
Adrià war das eine Aussage von Sterne-koch Jacques Maximin. So simpel wie genial: „Kopiere niemals.“ Während nun manche Sätze das Leben von einem einzigen als Individuum verändern, so sollte, was Ferran Adrià betrifft, die gesamte kulinarische Welt, die Gastronomie mit all ihren Techniken und Produkten von dieser Veränderung betroffen sein. Heute manifestiert unter den Begriffen Molekular- und Avantgarde-Küche, mit denen der Name Ferran Adrià untrennbar verbunden ist. Die Aussage Maximins veranlasste Adrià nämlich im Jahr 1987 im kleinen Dörfchen Roses nahe Barcelona einen neuen Weg der Gastronomie, fernab der zu dieser Zeit gelebten Realität der Nouvelle Cuisine, einzuschlagen. „Ich habe aufgehört, mich an meinen Kochkollegen zu orientieren, und eigenständig gedacht.“ Oder er hat sich Inspiration in branchenfremden Disziplinen geholt. So staunten Siphonhersteller für den labortechnischen Gebrauch nicht schlecht, als plötzlich die Bestellung eines katalanischen Kochs bei ihnen eintrudelte. Jahre später weiß man: Das war die Geburtsstunde der Espumas, die heutzutage in nahezu alle Küchen der Welt Einzug gehalten haben. Ein Beispiel für viele Neuerungen, die von Ferran Adriàs elBulli aus ihren Siegeszug um die Welt angetreten haben. Dabei hat Adrià das Rad nicht komplett neu erfunden. Nur genial adaptiert.
So erklärt es der Meister selbst am Beispiel der Erfindung des Minirocks: „Wichtig ist nicht,…
Ein Satz kann dein ganzes Leben verändern.“ Das hat Ferran Adrià gesagt. Weil es ihm so passiert ist. Im Fall von Avantgarde-Papst
Adrià war das eine Aussage von Sterne-koch Jacques Maximin. So simpel wie genial: „Kopiere niemals.“ Während nun manche Sätze das Leben von einem einzigen als Individuum verändern, so sollte, was Ferran Adrià betrifft, die gesamte kulinarische Welt, die Gastronomie mit all ihren Techniken und Produkten von dieser Veränderung betroffen sein. Heute manifestiert unter den Begriffen Molekular- und Avantgarde-Küche, mit denen der Name Ferran Adrià untrennbar verbunden ist. Die Aussage Maximins veranlasste Adrià nämlich im Jahr 1987 im kleinen Dörfchen Roses nahe Barcelona einen neuen Weg der Gastronomie, fernab der zu dieser Zeit gelebten Realität der Nouvelle Cuisine, einzuschlagen. „Ich habe aufgehört, mich an meinen Kochkollegen zu orientieren, und eigenständig gedacht.“ Oder er hat sich Inspiration in branchenfremden Disziplinen geholt. So staunten Siphonhersteller für den labortechnischen Gebrauch nicht schlecht, als plötzlich die Bestellung eines katalanischen Kochs bei ihnen eintrudelte. Jahre später weiß man: Das war die Geburtsstunde der Espumas, die heutzutage in nahezu alle Küchen der Welt Einzug gehalten haben. Ein Beispiel für viele Neuerungen, die von Ferran Adriàs elBulli aus ihren Siegeszug um die Welt angetreten haben. Dabei hat Adrià das Rad nicht komplett neu erfunden. Nur genial adaptiert.
So erklärt es der Meister selbst am Beispiel der Erfindung des Minirocks: „Wichtig ist nicht, der Erste zu sein, der die Idee hat, sondern sie als Erster zu konzeptualisieren.“ Mit diesen Worten zeichnet der Avantgarde-Papst zwei nackte Beine, wie er im Anschluss erklärt, römischer Herkunft zu Zeiten vor Christi Geburt, auf das Flipchart, mit einem kessen Teil um die Hüfte. „Eigentlich auch ein Minirock, oder nicht?“, fragt Adrià in die Runde. Konzeptualisiert im Sinne des heutigen Verständnisses eines Minirocks wurde das Ganze aber erst viel später. Ralf Bos, Delikatessenhändler aus Meerbusch bei Düsseldorf: „Für mich ist Molekularküche die personifizierte Avantgarde-Küche. Dabei haben die Granden der Molekularbewegung wie Adrià oder Blumenthal die Küche nicht neu erfunden, sondern nur gastrotauglich gemacht.“ Denn auch Texturgeber von Xanthan bis hin zu Ioata-Carrageen waren in der Industrie schon lange im Einsatz, bevor sie in der Molekular-Küche für Furore sorgen sollten. Und für gute und schlechte Schlagzeilen. Thomas Vilgis, Physiker für molekulare Lebensmittelwissenschaften an der Universität Mainz: „Die Gegner der Molekularküche haben nie verstanden, dass all diese Neuerungen nicht als Verdrängung der klassischen Methoden gedacht waren. Kein Mensch will das Schmoren verdrängen. Nur kann ich durch die Molekularküche eine neue Dimension hinzufügen und damit meine Küche bereichern.“ Molekularküche sei Textur und Geschmack in einem neuen Zusammenhang, so der Experte weiter. Aus dem Zusammenhang gerissen sorgte die Molekularküche allerdings für eine in der Gastronomie bis dato noch nicht dagewesene Dimension an Shit-Storm, der durch die internationale Presse wehte. „Dünnpfiff für fünf Personen“, titelte Gastronomiekritiker Jörg Zipprick 2008 in einem Artikel über die Techniken der Molekularküche. Bezogen auf den zu intensiven Einsatz von Texturgebern, bei denen die exakte Dosierung natürlich essenziell ist. Die der professionelle Umgang mit den Produkten aber auch mit sich bringen sollte.
Bos: „In einem 29-gängigen Menü von Ferran Adrià war ein Gang beispielsweise ein mit Orangenluft gefüllter Luftballon. Am Tisch aufgestochen, machte der Orangenduft die Gäste wieder munter und die Sinne bereit für die folgenden Gänge. Für sich alleine ist ein Gang mit Orangenluft-Ballons natürlich doof.“ Ein Grundproblem, das Bos am medialen Umgang mit Molekularküche sieht. „Journalisten haben den Effekt aus dem Konsens herausgenommen.“ Damit war molekular plötzlich böse und auch wenn die Techniken heute von aller Welt angewandt werden, so wird sich der Koch davor hüten, das im Restaurant laut rauszuposaunen. „Die Zahlen sprechen für sich. Die Gastronomie liebt diese Produkte“, bestätigt Bos. Auch Pere Castells, studierter Chemiker und Projektleiter der Bullipedia in Barcelona, weiß: „Die Begriffe Chemie und
molekular sind negativ behaftet in der Gastronomie.“ Dabei ist zum einen auch Wasser aufkochen ein molekularer Vorgang und zum anderen Molekular- beziehungsweise Avantgarde-Küche weit mehr als der bloße Einsatz von Texturgebern.
Eine undefinierbare Revolution?
So stellte Ferran Adrià den Chemiker vor nunmehr zehn Jahren dafür ein, um die Gastronomie auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben. Sprich kulinarische Vorgänge zu hinterfragen, zu analysieren und so Stellschrauben aufzudecken, die der Weiterentwicklung der Gastronomie dienen. Castells: „Ich habe Ferran darauf hingewiesen, dass es vielleicht schwer sein wird zu argumentieren, warum ein Chemiker für ihn arbeitet. Aber er hat gemeint, er wird sich dieser Herausforderung schon stellen.“
Schließlich hat sich Adrià von gängigen Meinungen und Unverständnis, wie man weiß, noch nie abhalten lassen.
Eine Eigenschaft, für den übrigens auch der Begriff Avantgarde an sich steht. Denn Avantgarde entstammt ursprünglich der französischen Militärsprache und bezeichnete Truppen, die als Erstes vorrückten und somit auch als Erstes Feindberührung hatten. Auf die Gastronomie umgelegt, bedeutet das also das Denken abseits vorgetretener Pfade, um die Küche in ihrer Entwicklung voranzubringen. Colman Andrews, Editorial Director und Vice President von „The Daily Meal“ New York: „Eine der Botschaften, die Ferran seinen Köchen immer beigebracht hat, war, für sich selbst zu denken und die Erkenntnisse zu teilen. Denn auch Wissen teilen ist Avantgarde“, so der Journalist, der als einer der Entdecker von Ferran Adrià im nordamerikanischen Raum gilt. Endgültig ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit rückte die Molekular- und damit auch die Avantgarde-Küche über dem großen Teich, als Ferran Adrià 2003 das Cover der „New York Times“ zierte. Heute gelten in den USA insbesondere Grant Achatz mit seinem Restaurant Alinea und Homaru Cantu im Restaurant Moto in Chicago als Wegbereiter avantgardistischer Techniken. Aufbauend auf Erkenntnissen, die sie hinter Adriàs Küchenblock in Spanien gewonnen haben. So wie eine Vielzahl heute international renommierter Köche von René Redzepi im dänischen noma über Andoni Luis Aduriz aus dem baskischen Mugaritz oder Virgilio Martinez im Restaurant Central in Lima, Peru. Andrews: „Avantgarde ist Wissen teilen und vermehren. Ferran bereitete die Basis. Oft war es dann aber auch der Input seiner Jünger mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, der das Gericht oder die Technik vollendete.“ Oder auch neue Produkte ins elBulli brachte. Vernetzt denken und sich von anderen Disziplinen inspirieren lassen – auch das ist Avantgarde-Küche. „Für mich bezeichnet die Molekularküche den Anfang der Avantgarde-Küche. Die beiden gehören zusammen“, ist sich Vilgis sicher. Für Castells ist Avantgarde „eine Art zu kochen, die sich auf andere Disziplinen stützt und in der Information zu jeder Zeit frei zugänglich ist“.
Wissen frei zugänglich zu machen, ist beispielsweise das Ziel der Bullipedia, einer kulinarischen Enzyklopädie, an der Adrià und sein Team aktuell arbeiten. Molekular beziehungsweise Avantgarde ist also noch lange nicht vorbei. Vielmehr allgegenwärtig und integraler Bestandteil in allen Bereichen der Gastronomie. Castells: „Wir arbeiten gerade an einem geriatrischen Projekt, mit dem wir helfen wollen, auch älteren Menschen den Spaß am Essen zu erhalten.“ Der Gedanke dahinter: Oft ist kauen und beißen im Alter schwieriger. Trotzdem aber nicht alles in Breiform essen zu müssen, sondern mittels Texturgebern und Co. in eine ansprechende Form gebracht, soll die Freude am Essen erhalten.
Ferran Adrià. Er hat die ganze Revolte angezettelt.
Zum Glück. Denkt schneller, als er spricht. Spricht daher oft für andere in Rätseln.
Viel Geld. Viele Ideen. Viele Kontakte.
Das ist nathan Myhrvold. Ehemaliger Microsoft-CTO und nun
allwissender Gastro-Geek. Autor von „Modernist Cuisine”.
Schein und Sein
Doch auch in den Sterneküchen dieser Welt hat die Avantgarde-Küche schon lange nicht nur einen geschmacklichen, sondern auch einen optisch bleibenden Eindruck hinterlassen. Vilgis: „Die Avantgarde-Küche ist auch eine neue Form der Anrichtetechnik. Die Elemente eines Gerichts werden erstmals so angeordnet, dass man sie beim Aufnehmen miteinander kombinieren muss.“ Ein Geschmacks-erlebnis, das damit erzielt werden soll, vor Augen.
Das setzt die Auseinandersetzung damit voraus, wie Geschmäcke miteinander kombiniert werden sollen beziehungsweise Aromen harmonieren. Und wie sich diese Kombination am Gaumen anfühlt. Womit sich hier einer der vielen Kreise der Avantgarde-Küche schließt. Denn auch die zunehmende Akademisierung der Küche ist avantgardistisch – im Sinne vom Beschreiten neuer Wege, die dem Fortschritt der Branche dienen sollen. Die Ansätze reichen dabei von der wissenschaftlichen Analyse von Aromen in Produkten, wie es Lebensmitteltechniker Bernard Lahousse und sein Team von Foodpairing machen, bis hin zu althergebrachten über Generationen überlieferten Kombinationen, die schlichtweg funktionieren. Castells: „Ein großartiger Koch kann keine Ahnung von diesen ganzen wissenschaftlichen Zusammenhängen haben und trotzdem ein genialer Koch sein. Genauso wie ich, nur weil ich all diese Dinge weiß, noch lange kein guter Koch bin.“ Wichtig und avantgardistisch sei nur, dass die Disziplinen ineinandergreifen und das geballte Wissen dadurch neue Horizonte eröffnet. Seien diese kulinarischer oder artverwandter Art.
Ein Gedanke, der den katalanischen Koch Ferran Adrià zum Vortragenden auf der Harvard-Universität in Boston gemacht hat, Andoni Luis Aduriz seine Gerichte im Film B.S.O. hat vertonen lassen und den Chemiker Pere Castells zum Leiter der kulinarischen Enzyklopädie Bullipedia macht. Das große Ganze also, in dem sich die Komponenten ergänzen wie die Milch, die sich mit dem Schwarztee zu einem hellbraunen Wohlgefühl vermengt. Für Wissenschaftler auch bekannt unter Brown’scher Bewegung. Oder wie der römische Philosoph Heraklit schon so schön sagte: „Panta rhei, Alles fließt.“ Ob er dabei nun einen nicht konzeptualisierten Minirock trug, oder nicht.