Paul Bocuse: Das letzte Einhorn

Paul Bocuse ist das wahr gewordene Gastronomie-Märchen. Ein Mann, der den Beruf von der Dienerschaft in den Star-Status erhebt. Und sich selbst gleich mit.
Januar 11, 2017 | Text: Nina Wessely | Fotos: Stéphane de Bourgies, www.bocuse.fr, Seb, Freddurantet, Guillaume Tranquard, Helge Kirchberger / Hangar-7

Das Restaurant von Paul Bocuse mit seinem Namensschriftzug

Ein Mann, eine Epoche

Paul Bocuse ist der letzte. Der letzte Grandseigneur einer Zunft an Köchen, die in die Geschichtsbücher eingehen werden als die bildenden Kräfte von dem, was wir heute Top-Gastronomie nennen. Nicht, dass Ferran Adrià, Joël Robuchon und Co. nicht auch die Küche maßgeblich auf den Kopf gestellt hätten. Und es immer noch tun. Aber ihr Ansatz ist ein anderer. Intellektuell, unternehmerisch. Paul Bocuse aber ist der letzte der Köche mit hoher Kochhaube, die über die Küche herrschen wie über einen Königsstaat. Mit einem unangefochtenen König an seiner Spitze, der auch bis zu seinem Tod regiert.

Paul Bocuse ist tot

Wie Frankreichs Innenminister Gérard Collomb auf Twitter mitteilte und Jérôme Bocuse bestätigt, hat uns der Koch des Jahrhunderts, Mitbegründer und Erfinder der Nouvelle Cuisine … im Alter von 91 Jahren leider für immer verlassen. Die Gastronomie trauert. Monsieur Paul war Frankreich. Einfachheit und Großzügigkeit. Vorzüglichkeit und die Kunst zu leben. Für unsere 200. Jubiläumsausgabe hatten wir noch das Vergnügen, Le Grand Chef, Monsieur Paul zu Treffen.

Das Restaurant von Paul Bocuse mit seinem Namensschriftzug

Ein Mann, eine Epoche

Paul Bocuse ist der letzte. Der letzte Grandseigneur einer Zunft an Köchen, die in die Geschichtsbücher eingehen werden als die bildenden Kräfte von dem, was wir heute Top-Gastronomie nennen. Nicht, dass Ferran Adrià, Joël Robuchon und Co. nicht auch die Küche maßgeblich auf den Kopf gestellt hätten. Und es immer noch tun. Aber ihr Ansatz ist ein anderer. Intellektuell, unternehmerisch. Paul Bocuse aber ist der letzte der Köche mit hoher Kochhaube, die über die Küche herrschen wie über einen Königsstaat. Mit einem unangefochtenen König an seiner Spitze, der auch bis zu seinem Tod regiert.

Paul Bocuse herrscht über die Küche wie über einen Königsstaat. Als unangefochtener König,der auch bis zu seinem Tod regiert.
So wie Paul Bocuse in seinem Restaurant L’Auberge du Pont de Collonges, das seit 1965 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist. Und es wahrscheinlich auch bleiben wird. Denn der Macht eines solchen Sonnenkönigs muss sich auch der Guide Michelin beugen. Da geht nichts drüber.

Seine Kochmütze, die ihn um ganze 50 Zentimeter größer macht, trägt der Franzose seit Jahrzehnten mit erhobenem Haupt. Am Kragen seiner Jacke die französischen Flaggenfarben – Frankreich über alles. Die französische Küche über alles. Mit einem prominenten Vertreter an ihrer Seite: Paul Bocuse himself. Die Marke ist perfekt.
Doch auch Größen wie Alain Ducasse, der heute 24 Restaurants in acht Ländern sowie sein eigenes Ausbildungszentrum und einen Verlag führt, ist sich sicher: „Ohne Paul Bocuse wäre die französische Küche nicht da, wo sie heute ist. Unsere Aufgabe ist es, dieses Erbe weiterzutragen.“ Denn man kann Paul Bocuse vielleicht vorwerfen, dass er sich dem Zeitgeist heute verschließe, aber den Verdienst an der französischen Küche, ja an Frankreich, der ist ihm nicht abzusprechen. Paul Bocuse, König der Gastronomie.

Vom Bauer zum Adel

Auch der Anfang der Geschichte, wie es dazu kam, dass der heute 90-Jährige der französischen Küche ein ganz neues Gesicht verleihen sollte – nämlich seines –, gleicht mehr einem Märchen. Ist aber Realität. In eine Gastronomenfamilie hineingeboren steht der junge Paul schon mit neun Jahren in der Küche seines Vaters auf dem Posten. Ein anderer Beruf kommt für den kleinen Koch nicht infrage. Gleichzeitig liebt er seine Heimat. Wanderjahre, wie wir sie heute kennen, mit Stages von Sydney bis Barcelona absolviert Paul Bocuse nicht.

Nach dem heimischen Herd schließt der Franzose seine Ausbildung bei Eugénie Brazier in Lyon ab (Anm.: Lyon liegt etwa zehn Kilometer von seinem Geburtsort Collonges-au-Mont-d’Or entfernt). Die erste 3-Sterne-Köchin Frankreichs lehrt ihn in ihrem Restaurant La Mère Brazier weitere Küchenkniffe, so wie das mit Trüffeln gewürzte Huhn, das heute in seinen Köchbüchern zu finden ist. „Wir verdanken die Lyoner Küche den Frauen“, hat der Grandseigneur immer gesagt. Voller Bewunderung für die traditionellen Gerichte und Zutaten der Region.

Den Feinschliff verpasste ihm schließlich Fernand Point. Ein Vorfahren-Einhorn der Gastronomie-Geschichte, das sich mit seinem 3-Sterne-Restaurant La Pyramide in Vienne neben Namen wie Auguste Escoffier und Marie-Antoine Carême in die Galerie der Küchengötter einreiht. Ein Platz ist noch frei in dieser Ahnenschau der Spitzenköche. Allesamt mit ernsthaftem und bedeutungsvollem Blick. Der von Paul Bocuse.

Raus aus meiner Küche

Die Köche von Paul Bocuse bei der Arbeit
Denn während Fernand Point die strikten Regeln eines Auguste Escoffiers in ihren Grundfesten erschütterte und weniger Mehl sowie mehr Butter erlaubte, ist es einer von Paul Bocuse’ größten Verdiensten, dass er eben nicht in seiner Küche war. Zumindest nicht, wenn das Dinner so gut wie gelaufen war und die Gäste sich wohlgesättigt den Bauch rieben.

Dann nämlich rückte der Franzose seine 50 Zentimeter hohe Krone zurecht, strich noch einmal über den Kragen mit den Farben der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit und gesellte sich zu den Gästen. Stand Rede und Antwort zu seinem Menü und holte sich das Feedback der Gäste.
Wenn ich nicht da bin, kocht derselbe, der kocht, wenn ich da bin.
Auf die Frage, wer denn koche, wenn er nicht da sei, antwortete er: „Derselbe, der kocht, wenn ich da bin.“ Und das ist seit mehr als 20 Jahren Christophe Muller. Ein Spitzenkoch der alten Schule. Der Kontinuität sowie den Gerichten seines Mentors Paul Bocuse verpflichtet, mit dem Anspruch, diese in Perfektion zuzubereiten.

Ob nun vor Ort in der L’Auberge du Pont de Collonges oder aktuell noch bis Ende Januar 2017 im Hangar-7 in Salzburg an der Seite von Executive Chef Martin Klein.
Heute ist das das Normalste der Welt. Macht ja auch Sinn. Doch tatsächlich kam Paul Bocuse als Erster auf diese grandiose Idee. Joël Robuchon, der mit insgesamt 30 Michelin-Sternen im Jahr 2016 der meistdekorierte Koch der Welt ist, erinnert sich: „Früher war es nicht einmal der Koch, der das Menü schrieb. Der Service oder der Besitzer des Restaurants bestimmte, was es gab.“
Paul Bocuse sah das stets anders: Der Koch muss auch gleichzeitig der Besitzer sein und vor allem in seiner Küche selbstbestimmt agieren. Heute auch mehr als logisch. Das Normalste der Welt.
Damals aber so etwas wie die Transformation von der flachen Gastronomiewelt, in der Nicht-Köche das Menü vorgaben, zu einer runden Sache. Der, der das Know-how hat, soll auch sprechen dürfen. Und Paul Bocuse sprach.

Nach fünf Jahren an der Seite von Fernand Point in Vienne war es für Bocuse jedenfalls wieder an der Zeit, die 43 Kilometer nach Hause anzutreten. Das war die Geburtsstunde der L’Auberge du Pont de Collonges, die alle eigentlich nur Paul Bocuse nennen.
Regionale Produkte waren dem Grandseigneur stets heilig. Diese Ansicht sollte ihm später auch die Lorbeeren um die Welle rund um die Nouvelle Cuisine einbringen. Mit 32 Jahren blinkt für Paul Bocuse der erste Stern über der L’Auberge. In den nächsten sieben Jahren folgen zwei weitere, bei denen es bis heute – mehr als 50 Jahre später – geblieben ist.
Kochen ist sehr einfach: ein gutes Produkt richtig gegart und angemessen gewürzt.

Einen weiteren Höhepunkt, wenn nicht den Spitzenmoment in Bocuse’ beruflicher Laufbahn, markiert eine Suppe. Und zwar die Suppe für den Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing. Dieser lud 1975 zu sich in den Präsidentenpalast. Paul Bocuse wurde zum Ritter der Ehrenlegion ernannt und die Köche kamen, kochten auf und verspeisten das 5-Gänge-Menü dann in Gesellschaft des Präsidenten. 12 Top-Köche darunter Michel Guérard, Jean Troisgros sowie Paul und Jean-Pierre Haeberlin gaben sich die Ehre.
Paul Bocuse war für die Suppe zuständig – eine intensive Consommé mit Gemüse-, Foie-gras- und Rinderzungenstückchen, mit Trüffeln verfeinert. Behütet unter einer Haube von Blätterteig. Die Suppe mit den Initialen des damaligen Staatsoberhaupts serviert Paul Bocuse seither in seinem Restaurant. Ein Klassiker im klassischen Bocuse-Staat. Die Initialen V. G. E. stehen immer noch am Suppentopf, den man vom Service für 80 Euro bekommt.
Bocuse’ legendäre Trüffelsuppe ist dem ehemaligen Präsidenten Frankreichs, Valéry Giscard d’Estaing, gewidmet
Denn eines ist der Großmeister der Gastronomie sicher nicht – geschäftsuntüchtig. Auch das war zu seinen Anfangszeiten so gut wie unmöglich. Ein gehobenes Res­taurant wirtschaftlich erfolgreich führen. Die immer zahlreicheren Ableger des Bocuse-Imperiums machten es möglich. Schon in den frühen 70er-Jahren betrieb Bocuse ein Restaurant in Tokio. In seinem kleinen Geburtsort führt der Großmeister zwei Restaurants. Im nahe gelegenen Lyon fünf und heute acht in Japan.

Eine der gewinnbringendsten Dependancen ist das Restaurtant Pavillon de France im Epcot Center des Disneyland-Themenparks in Florida, das der Virtuose 1982 gemeinsam mit seinen Kollegen Roger Vergé und Gaston Lenôtre eröffnete. Heute führt dieses sein Sohn Jerôme, Abkömmling aus der Beziehung mit seiner zweiten Frau, wobei die Heirat mit der ersten immer noch aufrecht ist, und zwar seit 1946. Doch dazu später.

Fest steht nur, dass man von Bocuse immer schon gerne gesprochen hat. Auch wenn es nicht immer um die Gerichte an sich ging. Bocuse selbst sagte einmal: „Das Essen in einem guten Restaurant macht 20 Prozent aus. Der Rest ist Ambiente.“ Wobei in seiner Küche trotzdem immer das Produkt im Mittelpunkt stand. Eine Seltenheit zu einer Zeit, in der Dosenerbsen und Tiefkühlfisch gerade en vogue waren.

Auch Eckart Witzigmann, einer seiner berühmtesten Schüler, sagt: „Von Paul Bocuse habe ich den Respekt vor dem Produkt gelernt.“
Denn auch wenn Frische heute ein unausgesprochenes Credo in jeder Küche ist, damals war das bahnbrechend. Und Paul Bocuse, der wie sein Kollege Michel Guérard frisch und regional kochte, ein Revoluzzer unter den Gastro-Granden. Die Nouvelle Cuisine war da. Das war Anfang der 70er-Jahre. Zu dieser Zeit entstaubten die Revoluzzer rund um Bocuse die Küche von allzu geschmacksverdeckenden Saucen, tupften die Butter trocken und ließen die hochmodernen Konserven links liegen.

51 Jahre drei Sterne zu halten, schafft man nur mit guten Mitarbeitern.
Manche meinen, dass die Verdienste rund um die Nouvelle Cuisine, die Erneuerung der Küche eigentlich Michel Guérard zugesprochen gehörten. Aber von Bocuse redete man anscheinend einfach lieber. Auch als dieser der Nouvelle Cuisine den Rücken kehrte und wieder begann, Lyoner Traditionskost in seinem 3-Sterne-Laden zu kochen: Krebsschwänze in Nantua-Sauce (Anm.: eine klassische Sauce auf Sahnebasis, die nach der Stadt Nantua benannt ist), Hechtklöße in eben gleicher Sauce und die Suppe für den Präsidenten. Das stand damals wie heute auf der Speisekarte des Paul Bocuse.

Über die Nouvelle Cuisine sagt er zu dieser Zeit: „Nichts auf dem Teller, alles auf der Rechnung.“ Für Journalisten war wieder aufgetischt – Zitate Ende nie und drohte das Lodern um Bocuse’ Person einmal etwas abzuflachen, na dann musste eben ein Kochwettbewerb her, bei dem der Gewinner natürlich mit einem „Bocuse“, und zwar aus „Gold“ – dem „Bocuse d’Or“ für seine Gerichte belohnt wird.

Die Gastronomie bin ich

Die Maschinerie lief und läuft heute noch wie geschmiert. Der Bocuse d’Or 1987, sein erstes großes Kochbuch „Die neue Küche“, 1977 erschienen, das insbesondere auch die deutsche Küche maßgeblich beeinflussen sollte, die Auszeichnung zum Koch des Jahrhunderts 1989 und bis heute laut Berliner Zeitung ein Imperium aus 700 Mitarbeitern mit 50 Millionen Euro Umsatz jährlich.
All das, eine Vielzahl an weiteren Kochbüchern sowie sein Auftritt im TV als einer der ersten TV-Köche in „Bocuse à la Carte“, im ZDF ausgestrahlt, macht Paul Bocuse zu einem der größten Köche unserer Zeit.

Er hat sich seinen Platz in der Ahnengalerie verdient und perfekt inszeniert. Seine Unterschrift auf Marmeladen, Champagner und Küchentüchern ist Garant für einen Verkaufsschlager. Eine Heerschar an Köchen, die selbst heute zu den Granden der Gastro-Welt gehören, darunter Eckart Witzigmann und Heinz Winkler, und unter ihm gelernt haben, machen ihn für die Kochwelt unsterblich.

Das Festhalten an seiner „Paul-Bocuse-Küche“ in der L’Auberge du Pont de Collonges ermöglicht Gastro-Pilgern auch heute noch eine Zeitreise in die Anfänge der Nouvelle Cuisine (auch wenn der Meister das selbst nicht gerne hören wird). Innovation und Kreativität waren stets sein Credo. Heute kann man das in seinem Restaurant vielleicht nicht mehr wirklich finden.
Ein Bocuse-Klassiker: Loup en croûte mit Sauce Choron
Doch gerade durch sein starres Festhalten an dem, was Paul Bocuse ausmacht, weiß jeder, was den Mann in der steifen Haltung mit dem hohen Hut ausmacht. Ich bin die Gastronomie Frankreichs, sagt seine aufrechte Statur. Ich bin der Mann, der abgesehen von der Neuerschaffung einer ganzen Branche öffentlich mit drei Frauen gleichzeitig zusammenleben kann – und das schon seit 1946. Bloß weil ich es kann. Die Journalisten waren wieder glücklich, als Paul Bocuse dieses Detail aus seinem Privatleben 1985 in seinen Memoiren „Le feu sacre“ öffentlich machte.

Von Paul Bocuse spricht man einfach gerne. Schon überhaupt, wenn er auf dieses pikante Detail den Kommentar draufsetzt: „Ich lebe den Traum eines jeden Mannes.“ Am 11. Februar 2017 wird der Mann 91 Jahre alt, die Welt spricht nach wie vor gerne über ihn, und die Sonne scheint noch immer ungetrübt über sein Reich.
Aktuell geht die Sonne über seinem Reich sogar schon ein bisschen früher auf – denn der Bocuse-Königsstaat erstreckt sich den Januar über von Collonges au Mont d’Or bis nach Salzburg. In den Hangar-7. Christophe Muller kocht hier als Vertreter für den großen Bocuse bei einem seiner ehemaligen Schüler, Patron Eckart Witzigmann, auf.
Ein sehr seltenes Erlebnis – wenn Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann nicht als Mentor, sondern als Schüler besucht wird und sich am weltumspannenden Gastrostammbaum wieder ein Jahreskreis schließt.
www.bocuse.fr

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