Chefdays 2015 – Claus Meyer: Der Messias der Gastronomie
Geboren im schwärzesten Zeitalter der dänischen Gastronomiegeschichte, schaffte es Claus Meyer wie kein anderer, seine Visionen in die Tat umzusetzen. Weil seine Mutter das Glück hatte, in der ersten Generation als Frau eine Tätigkeit außerhalb des Hauses zu verfolgen, bedeutete dies für Meyer Fleischbällchen aus Dosen, Kartoffelbrei aus Flocken und kanisterweise Saucenbinder. „Meine Eltern zogen mich auf mit billigem und fettigem Geschnetzelten und gefrorenem Gemüse, viele Jahre zuvor gepflückt in exotischen Regionen wie Polen, Rumänien und Kasachstan. Alles gemeinsam wurde jahrelang in riesigen Kühltruhen in unserem Keller gelagert. Das meiste Fleisch wurde drei- bis viermal paniert, bevor es in Margarine – voll mit Transfettsäuren – frittiert wurde. Mein Vater, meine Mutter und ich verbrauchten jeden Abend 500 Gramm Margarine – die Hälfte zum Frittieren, die andere Hälfte für die Sauce meiner Kindheit, geschmolzene Margarine. Kein Wunder, dass ich mit 15 bereits 98 Kilogramm wog und zu den drei fettesten Kindern in Dänemark gehörte.“ Diese Geschichte erzählt einer, der heute zu den genialsten Gastronomen der Welt zählt. Ein Wunder, bei einer Kindheitsgeschichte, die vor Fett nur so trieft. „Essen war nie eine Möglichkeit, die Schönheit des Lebens zu erfahren und zu erschmecken, sondern reine Effizienz.“ Lebensmittel sollten billig sein, zubereitet und gegessen in unter 30 Minuten.
Wie Gott in Frankreich
Ein Aufenthalt in Frankreich änderte Meyers Verständnis von Lebensmitteln, Ernährung und der Nahrungszunahme grundlegend: „Ich verbrachte ein Jahr in der Gascogne im Südwesten Frankreichs. Dort lebte und arbeitete ich mit einem Mann und seiner Frau zusammen. Der Mann sollte mein spiritueller Vater werden. Er hatte Wurzeln in Österreich und Frankreich, sein Name war Guy und er war Bäcker in vierter Generation, aber auch Chef Pâtissier und Traiteur. Seine Frau Elisabeth und er konnten keine Kinder bekommen, obwohl sie immer einen Sohn wollten. Meine Geschichte verlief da ganz anders: Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich 14 Jahre alt war. Meinen Vater sah ich danach sehr selten, meine Mutter wurde Alkoholikerin. In Frankreich erlebte ich, wie gut ein Team funktionieren kann: Elisabeth übernahm Tätigkeiten im Haus, Guy in der Bäckerei und ich half, wo ich nur konnte. Guy ist der großzügigste Mensch, den ich jemals getroffen habe. Seine Bäckerei reflektierte die goldene Zeit des französischen kulinarischen Handwerks. Er kaufte nur die besten Produkte und achtete nicht auf den Preis.“
um die Nachfrage zu ändern und damit die Ernährungskultur.
Eines Tages, im Alter von 20 Jahren, hinterfragte Meyer das Geschäftsmodell von Guy, weil er nicht verstand, wie man inflationär seine Rezepte und Küchenutensilien weitergeben oder offensichtlich zu viele Mitarbeiter beschäftigen konnte. „Mich ärgerte es, weil mein Vater mir als Kind beibrachte, dass Glück bedeutet, morgen effizienter zu sein als gestern. Und egal, was ich im Leben wolle, ich müsse mich nur beeilen. Aber Guy gab mir viel wichtigere Dinge mit auf meinen Weg: Zuerst zitierte er den Philosophen Félicien Marceau mit den Worten ,Glück ist, wenn du weißt, was du mit deinem Leben anfangen willst, und den Mumm hast, deinem Herzen zu folgen‘. Dann sagte er: ,Die Eile ist der schlimmste Feind, nicht allein in der Gastronomie, auch in der Liebe und für die Menschlichkeit als solches.‘ Er widerlegte damit alles, was mein Vater in meiner Kindheit zu mir sagte.“
Von Mikrowellen und Unternehmergeist
Zurück in Kopenhagen wollte Meyer im naiven Alter von 20 Jahren die Food-Kultur in Dänemark ändern. Er studierte an der Business School und untersuchte den Zusammenhang zwischen Mikrowellen und Scheidungen. „Ich fand heraus, dass die Zahl der verkauften Mikrowellen der Zahl der Scheidungen folgten. Einen Preis habe ich mit dieser Erkenntnis nicht gewonnen, aber den Mut und die Stärke, die Ernährungssituation ändern zu wollen.“
In den nächsten zwölf Jahren gründete Meyer 15 oder 16 verschiedene Lebensmittelunternehmen und hatte 2002 rund 500 Mitarbeiter. Er engagierte sich für Themen wie Schulessen oder die Kaffee- und Schokoladenproduktion, eröffnete einige Restaurants. „Wir waren nicht durchschlagend erfolgreich – es war in Orndung –, aber ich lernte als Unternehmer viel dazu. Zum Beispiel sollte man immer klein anfangen. Besonders, wenn man so wie ich kein Geld hatte, benötigt man innovative Ideen, um neue Geschäfte umzusetzen. Und schaffe immer Win-win-Situationen. Ganz klein, aber gerade so groß und dramatisch, dass Investoren beeindruckt sind. Nummer drei: Orientiere dich nicht an der Nachfrage. Ja, ich weiß, ich habe auch auf der Business School in Kopenhagen gelernt, dass man die Nachfrage bedienen und sich an ihr orientieren muss, aber das habe ich nie gemacht. Mein Ziel war es, eine Veränderung zu erreichen. Ich habe neue Wege eingeschlagen, um die Nachfrage zu ändern und letztendlich auch die Ernährungskultur meines Landes zu ändern.“
Auf den Geschmack gekommen
Mit der Nordic-Cuisine-Bewegung änderten sich der Geschmack und die Nachfrage – und das nicht nur in Dänemark, sondern weltweit. „Eine Win-win-Situation für die Welt.“ Meyer suchte nach einer Idee, die nicht nur einen kurzen Erfolg beschrieb. Er suchte nach einem spektakulären Durchschlag: „Du brauchst Mitstreiter, die das gleiche Ziel verfolgen. Ich war immer von großartigen Menschen umgeben, die als Missionare und Kammeraden für ihre Passion einstanden. Von ihnen fühlte ich mich immer angezogen und bei ihnen bin ich geblieben. So wie bei Torsten Vildgaard.“ Vildgaard kochte acht Jahre lang als rechte Hand von René Redzepi im noma und eröffnete 2013 sein eigenes Restaurant Studio, das prompt mit einem Stern ausgezeichnet wurde.
Mit dem noma eröffnete sich für Meyer eine Plattform, auch soziales Engagement zu zeigen: „Wir wollten die Welt mit unseren Menüs nicht weiter zerstören. Deshalb sind wir sehr bewusst mit den Produkten umgegangen und wollten Chefs nicht über die Natur stellen. Nur weil du Erdbeeren züchten kannst, die besser schmecken als die aus der Natur, heißt das nicht, dass du dich über alles stellen darfst. Es lebe die Saisonalität, lasst uns die Natur feiern und die Verbindung zwischen Köchen und der Region wiederherstellen.“ Zusammen ergaben sich die Schlagworte Genuss, Gesundheit und Nachhaltigkeit, auf denen die Nordic Cuisine begründet ist. „Die Welt machte sich lustig über unsere Karte, behauptete wir würden Robbenpenis und vergorene Eingeweide arktischer Vögel verarbeiten. Alles, was die skandinavische Horrorküche anzubieten hatte. Aber wir hatten eine gute Idee: Wir luden Gastronomen, Politiker, kleine und große Produzenten, aber auch Privatpersonen aus Skandinavien zu einem Nordic-Cuisine-Symposium ein. Die Frage, die wir den Anwesenden stellten, war ganz simpel: Dürfen wir davon träumen, eine wundervolle und verantwortungsvolle Food-Kultur an unsere Kinder weiterzugeben, die viel besser ist als das, was wir von unseren Eltern bekommen haben? Und wenn wir diesen Traum träumen dürfen, welche Werte und Aufgaben gehören dazu, ihn umzusetzen? Was müssen wir tun, damit die Welt unsere Küche bewundert? Daraus entstand das Nordic Cuisine Manifesto, das von 16 großen Köchen der Region unterschrieben wurde.“ Das noma sollte kein Eliteverein für Sternefresser und Bio-Bauern werden. Vielmehr verfolgte das Team um Meyer die Vision, etwas am Ernährungsverständnis der allgemeinen Bevölkerung zu ändern. „Das haben wir geschafft! Mehrere nordische Restaurants sind in der World’s-50-Best-Liste, auf Festivals wird skandinavische Küche angeboten, Spezialitäten finden den Weg in die Supermärkte, in den Köpfen hat sich etwas geändert.“ Aber wie konnte es dazu kommen? „Da war nie ein Logo, keine Organisation, keine Regeln, kein Präsident. Einzig und allein war die Nordic Cuisine eine Sammlung von Werten wie Offenheit, Demokratie und Inklusion. Es hat sich wie ein Virus verbreitet, weil es den Zeitgeist angesprochen hat.“ Die Besinnung zum Wesentlichen und jeder kann jederzeit mitmachen.
Aus einem Topf
Was ist das Wesentliche? „Als das noma nach vielen Jahren Geld abwarf, was neu für mich war – vorher war ich oft nahe dem Bankrott –, gründete ich die Organisation The Melting Pot.“ Aus dem Bankrott rettete Meyer ein Buchführer, den er 2008 einstellte. Danach ging es finanziell bergauf. Seine Stiftung The Melting Pot sollte Menschen helfen, die sich in der Gastronomie stark und selbständig machen wollten und gemeinnützige Projekte organisierten. „Die Frage, die ich mir stellte, war: Was wäre das fantastischste Projekt, das Menschen wie dir und mir und der Welt guttun würde? Was ist das beste Geschenk, das du der Welt machen kannst? Meine Antwort war: Ich kann versuchen, Armut mit Genuss zu bekämpfen.“ Aufbauend auf dieser einfachen Idee gründete er im ärmsten Land Südamerikas, in der Stadt La Paz in Bolivien, das Restaurant Gusto. Gleichzeitig organisierte er eine Food-Bewegung in Bolivien. „Nach anderthalb Jahren geschah ein kleines Wunder, Camille und Micheal Angelo, die vor Ort das Restaurant führten, wurden auf Platz 32 der besten Restaurants Südamerikas gewählt. Als erstes soziales Projekt überhaupt schaffte es das Restaurant auf die Liste. Danach unterstützte eine niederländische Organisation uns mit 1,5 Millionen Euro. Mit dem Geld war es möglich 30 Mikro-Restaurants und Kantinen in Schulen zu eröffnen, die 3000 Kinder in den nächsten zwei Jahren versorgen können. Und wir reden hier von sehr kleinen Investitionen, mit denen solch große Erfolge gefeiert werden können. In einem armen Land kannst du mit wenig Geld schon Wunder bewirken!“ Meyer teilt das Geld des noma mit der Welt, so wie es ihm Guy damals in der französischen Bäckerei beibrachte: „Je mehr du abgibst, umso mehr kommt auch zurück! Und wenn du an das Unmögliche glaubst, dein Ziel kennst und deinem Herzen folgst, wirst du keine Grenzen kennen.“