Zukunftstrends
FOODTRENDS
Je mehr Essen zu einem Hobby wird, umso ausgefallener werden die Bedürfnisse und Ideen. Es ist wie mit jedem Hobby: Die Außenwirkung muss krachen. Briefmarkensammler sind langweilig, Fallschirmspringer sind mutig. Wenn also die Haute Cuisine der 80er-Jahre das Briefmarkenpendant ist, dann sind ausgefallene Foodtrucks, Pop-ups und koschere Cafés die Fallschirmspringer. Sehen und gesehen werden.
FOODTRENDS
Je mehr Essen zu einem Hobby wird, umso ausgefallener werden die Bedürfnisse und Ideen. Es ist wie mit jedem Hobby: Die Außenwirkung muss krachen. Briefmarkensammler sind langweilig, Fallschirmspringer sind mutig.
Wenn also die Haute Cuisine der 80er-Jahre das Briefmarkenpendant ist, dann sind ausgefallene Foodtrucks, Pop-ups und koschere Cafés die Fallschirmspringer. Sehen und gesehen werden. Sag mir, wo du dein Mittagessen kaufst, und ich sag dir, wie cool du bist. Menschen identifizieren sich lange nicht mehr nur über Kleidung und Karriere, sondern durch ihren individuellen Essstil: Wer etwas auf sich hält, erweitert seinen Horizont und greift dabei auch gerne mal zu Großmutters selbst gemachter Marmelade (Stichwort: Hipster) und isst Lunch im Allergiker-Café, ohne Allergiker zu sein. Nicht umsonst vergleicht Hanni Rützler in ihrem Food Report 2016 Essen mit Popmusik: Gutes Essen ist in der breiten Masse angekommen. Es wird darüber geredet, geprahlt und selbst gemacht.
Das Angebot wächst dementsprechend schnell wie die unterschiedlichen Musikstile in den Charts. Das liegt vielleicht auch daran, dass sich jeder zum Gastronomen berufen fühlt, ob die Kenntnisse nun da sind oder nicht. Suppenküchen, High-End-Lieferservices, vegane Cupcakes – mit einer Idee, die den bunten und dynamischen Gastronomiemarkt erweitert, machen sich besonders Quereinsteiger selbständig. Je spezieller, umso besser.
Obwohl es den erfundenen koscheren Dancing-Halal-Pop-up-Salat noch nicht gibt, macht er deutlich, in welche Richtung sich der Trend bewegt: gut und gesund mit Bezug zu klassischen Werten und globalem Einfluss. Die Trends, die Hanni Rützler im Food Report 2016 aufzeigt, verschlingen sich wie ein voller Teller Spaghetti, verkleben wie der geschmolzene Käse und schmecken frisch-scharf wie die würzige Tomatensauce. Und eines haben sie noch mit der guten, alten Spaghetti bolognese gemeinsam: Irgendwie neu klingt das alles nicht. Trotzdem lohnt sich ein Blick auf die verworrenen Trends 2016.
Saisonales schmeckt am besten
Lokale Produzenten, Selbstgemachtes, Saisonales: Das Handwerk und die Natürlichkeit kämpfen sich durch Berge an Convenience-Produkten, standardisierten Menüs und Fast Food. Die Lust an frischen, ehrlichen und unveränderten Lebensmitteln sorgt dafür, dass sich immer mehr Menschen für die Herstellung von Eingelegtem, Marmeladen und Co. interessieren. Dazu passen auch unzählige Stadtgärten, Kräuterbeete und urbane Nutzflächen. Genau auf diesen Grüne-Stadt-Zug sind die Macher von Frau Gerolds Garten aufgesprungen.
Neben 80 Hochbeeten im Sommer lockt die gemütliche Atmosphäre im Winter. Saisonales Konzept, das sich von der Karte bis hin zum Interieur zieht. Der Mitbegründer des Züricher Restaurants, Mischa Dieterich, erklärt die Idee: „Wir haben keine Speisen – vor allem Beilagen – ganzjährig auf der Karte. Wenn sie im Winter nicht aus der Schweiz geliefert werden können, servieren wir sie einfach nicht mehr.“ Und weil das hervorragend bei den Gästen ankommt, eröffnen sie Anfang 2016 einen neuen Laden, der sich noch mehr auf die Saison stützt: „Wir eröffnen Anfang 2016 unser bis jetzt größtes Projekt am Helvetiaplatz in Zürich, in dem wir radikal bio und saisonal fahren.
Mal nicht nur gesagt, sondern richtig: mit Schwarzwurzel-Suppen und ohne Tomaten im Herbst. Da machen ja alle immer Ausnahmen“, erklärt Dieterich die Radikalität des neuen Konzepts. Möchte man diesen saisonal-regionalen Trend mit der Popmusik vergleichen, klingt er wie Madonna: Seit unzähligen Jahren erfolgreich, nie langweilig und die unanfechtbare Queen der Gastronomieszene.
Arabisch ist das neue Italienisch
Pizza, Pasta und Antipasti weichen Tabouleh, Falafel und Humus: Die arabische Küche bezaubert uns mit orientalischen Gewürzen, ungewohnten Getreidesorten und frischer Leichtigkeit. Statt regionaler Küche wird auch die Gastronomie von der Globalisierung eingeholt. Die Familie um Haya Molcho ist genau auf diesen Orient-Express aufgesprungen und hat in Wien, Berlin und Zürich die Kette Neni etabliert. Ein Gastronomiekonzept mit Weltformat: Elektronische Beats treffen auf das kulinarische „Mosaik aus persischen, russischen, arabischen, marokkanischen, türkischen, spanischen, deutschen und österreichischen Einflüssen,“ wie es die Küchen-Virtuosin Haya Molcho beschreibt. Schlabbrige Pommes und triefender Döner machen Platz für frisches Fast Food. Schnell ist lange nicht mehr Junk. Und trotz regionaler Verbundenheit bekommen kulinarische Ausländer ihre Chance und definitiv ihre Berechtigung. Besonders im Hinblick auf das steigende Interesse an frischen Geschmäcken. Was wären die Charts ohne neue Beats, frische Melodien und eine Prise Minze im Joghurt? Genauso langweilig wie eine 90er-Party ohne Tarkans Dauerbrenner „Kiss, Kiss“.
Moralisch, spirituell, speziell
Gemeinsam mit den gesundheitlichen Aspekten, die oftmals auch an ökologische Ideologien geknüpft sind, scheinen Moralitäten nun auf dem Vormarsch zu sein. Laut Hanni Rützler wird Essen zur Religion und ihre einzelnen Prägungen sind Adjektive des Trends: Vegetarisch, vegan, Rohkost sind Ernährungsweisen, die weitere Lebensbereiche beeinflussen. Lifestyle geprägt durch Essverhalten und moralische Vorstellungen. Veganer sind keine Exzentriker mehr, sondern tragen ihre Vorstellungen in die Welt hinaus und werden nicht mehr dafür belächelt.
Ein lukratives Geschäft, das ganze Industriezweige für diese Zielgruppe sprießen lässt. In diese Zielgruppenanalyse fallen auch andere Randgruppen, die immer mehr Beachtung bekommen: Je spezieller das Angebot, umso mehr Identifizierung mit dem Produkt. Genauso machen es Franka Margarete und Astrid Rothaug, die das Allergiker Café in Wien ins Leben gerufen haben. Damit bieten sie Süßes für alle – mit oder ohne Allergie. Vegan, laktosefrei und glutenlos finden längst bei allen Anklang, die sich mit Essen als Hobby auseinandersetzen.
Es geht um das, was drin ist, nicht das, was nicht drin ist: „Seit einigen Jahren werden gute qualitative Zutaten immer mehr geschätzt. Wenn man gute Zutaten verwendet, braucht es auch keine 20 Zutaten, dann reichen oft vier und man kann schon eine gute Torte daraus zaubern. Die Wertschätzung von Nahrungsmittel wird, glauben und hoffen wir, immer mehr Menschen erreichen. Wie viel Einfluss das Essen auf unser Gemüt und unser Wohlbefinden hat, rückt immer mehr in den Alltag der Menschen“, erklärt Franka Rothaug die Trends 2016.
Ganz neu laut Rützler ist die Wahrnehmung von Kontrollinstanzen wie halal und koscher. Nicht alleine religiöse Vorschrift, sondern Trendmarks für die bewusste Ernährung: Zertifizierte Lebensmittel gelten einfach als noch kontrollierter und sicherer als beispielsweise das unter Missbilligung leidende Bio-Siegel. Die Richtlinien sind für die bewusste und sich informierende Zielgruppe nicht eng genug gefasst. Ganz zu schweigen von den Kontrollen konventioneller Lebensmittel.
Schnell und trotzdem gut
Suche dir ein Produkt und mache es zum High-End-Lebensmittel: So geschehen bei dem Düsseldorfer Gastronomen Selim Varol. Er rief im Sommer 2013 seinen Burgerladen What’s beef ins Leben. Ziel: die ehrlichsten und leckersten Burger. Mit bestem Fleisch. Bestem Gemüse. Bester Sauce. Varol macht das seit 2015 auch mit Pizza und bedient damit einen eigentlich gesättigten Markt, der aber genau das suchte, was Varol ihm geben kann. Gutes Essen. Moralisch einwandfrei. Fast Good.
Mischa Dieterich von Frau Gerolds Garten aus Zürich erklärt den Trend so: „Die Fusion- Schäumchen- Zeit ist unserer Meinung nach ziemlich vorbei. Altbewährte Speisen wie Würste, Käse-Fondue funktionieren viel besser. Einfache Gerichte mit den richtigen Zutaten.“ Dieser Trend wird gerade dadurch verstärkt, dass Außer-Haus-Verpflegung immer größeren Anklang findet. Essen findet immer überall statt. Und immer und überall hat man keine Zeit für Chichi und Co. Der Zeitmangel bedingt dabei auch die Gut-und-gesund-Strömung: Es muss irgendwie alles sein – gut, gesund, schnell und trotzdem der größtmögliche Genuss. Denn Fast Food wird niemals sterben, es wird nur besser. So wie die Lieder von Michael Jackson.
Aufgepopt
Wer eine gute Idee hat, sollte sie umsetzen. Wenn sie dann auch noch den Genuss in den Vordergrund stellt und Nachhaltigkeit propagiert, erst recht. Ob da nun jahrelange Gastronomie-Erfahrung dahintersteckt oder nicht, ist zweitrangig. Bei den jungen Gastronomen, die hinter den zwei Pop-up-Restaurants Hood Food, Wood Food stecken, zählen der Wille und die zündende Idee: Laura Schälchli, Valentin Diem und Fanny Eisl geben dem Genuss den Raum, den er verdient, und das in Form von unregelmäßig regelmäßigen gemeinsamen Abendessen.
Im Fokus stehen immer das Handwerk und die Innovation, sich von konventionellen Strukturen zu lösen. In ungewöhnlichem Umfeld Neues zeigen, gelang auch Matthias Bernwieser, dem JUNGEN WILDEN 2015, der in Brasilien die nordische Küche an zwei Abenden auf die Teller brachte. Und damit gut ankam. Denn nicht nur in Europa öffnet man Tür und Tor für kulinarisches Kulturerbe, sondern auch auf der anderen Seite ist man sehr an europäischen Einflüssen interessiert.
Konventionen aufbrechen gelingt jungen Gastronomen, aber auch Sterneköchen wie Nenad Mlinarevic, Küchenchef im 2-Sterne-Restaurant focus in der Schweiz, in Form von Pop-ups besonders gut. Mlinarevic nutzt den Betriebsurlaub im Januar und Februar für eine Rundreise durch das eigene Land. Er entert die Küchen seiner Kollegen und wird außergewöhnliche und ausschließlich regionale Produkte in den Mittelpunkt stellen. Das Pop-up-Konzept bietet ihm eine Plattform, in der er sich auf Zeit – außerhalb seines Tagesgeschäfts – ausprobieren kann.
Ähnlich machten es auch Peter Zinter und Brian Patton: Erst testeten sie ihr Barbecue-Konzept als Pop-up-Restaurant Big Smoke in Wien und etablierten nach erfolgreicher Umsetzung das Brickmakers mit gleichem Konzept. Bei ihrem zweiten Versuch Slow Tacos, das ebenfalls als Pop-up startete, ist noch nicht entschieden, ob es als fester Bestandteil der Zinter-Patton-Unternehmensgruppe Culinary Love Band etabliert werden soll. Egal, ob es als Sprungbrett, Marktanalyse oder als temporäres Restaurant geplant ist, gute Pop-ups sind One Hit Wonder, die lange im Gaumen und Gedächtnis bleiben.
Tschüss, Heißhunger!
In der Mittagspause, im Single-Haushalt oder einfach gegen den Heißhunger bei Zeitmangel – hier sehnt sich der Körper nach gutem Essen und wird von den meisten entweder komplett ignoriert oder mit schnellem Wurst-Brötchen oder fettiger Pizza gewaltsam zum Schweigen gebracht. High-End-Lieferservice heißt die frische Alternative. Bio-Zutaten, ausgewählte Speisen, online bestellbar. Anpassung an die urbane Zielgruppe auf höchstem Niveau.
Marcus Berg vom Lieferservice Stadtsalat fasst es folgendermaßen zusammen: „Ernährung ist in unserer Welt kein Grundbedürfnis mehr, es ist viel mehr als das. Satte Farben, viel Optik und exotische Geschmackskompositionen müssen zu einzigartigen Erlebnissen kombiniert werden. Dieses Erlebnis muss einer Idee oder Philosophie folgen und eine Geschichte erzählen.“ Und genau da müssen Gastronomen ansetzen, denn Essen ist eben Hobby und nicht nur Nahrungsaufnahme.
Legeres zweites Standbein
Zielgruppen analysiert und erkannt haben auch viele Sterneköche: Sie eröffnen ein zweites Restaurant, das die Abnehmerschaft vergrößert. Sie bieten auf der einen Seite den Opernabend für eine besonders interessierte kleine Zielgruppe und Mainstream auf ausgeklügeltem Niveau für alle, die morgens, mittags oder abends Lust auf gutes Essen haben, ohne ein Vermögen auszugeben. Diese Lokale sind die Verbindung zwischen High-End und Kantine und treffen auf große Freude. La Soupe Populaire von Tim Raue oder Le Superette von Kobe Desramaults zielen genau darauf ab. Zwei Lokale in unterschiedlichen Preisklassen.
Mit Herz und Niere
Im Fokus stehen – egal bei welchem Gastronomiekonzept – immer die inneren Werte: Es boomen konstante, konkret geplante und gesellschaftliche gute Projekte. Essen ist nicht mehr länger pure Nahrungsaufnahme, sondern ein Hobby. „Der Food-Trend 2016 heißt ,Es war einmal …’. Das Bodenständige, Traditionelle, Altbewährte kommt wieder. Speisen, die man von früher her kennt“, erklärt Spitzenkoch Max Stiegl. Darunter zählt für Stiegl auch die Lebensmittelverschwendung, die er mittels Innereien-Fokus versucht, möglichst gering zu halten. „Eine Schüssel voller Muscheln oder Krebse oder ein ganzer Braten haben zudem viel mehr Aussagekraft und Charakter als irgendein zurechtgeschnittener Hokuspokus der 100 Mal berührt wurde.“ Nose to tail, ein bewusstes Umgehen mit Lebensmitteln und die absolute Frische der Produkte – verarbeitet mit einem Handwerk und Charakter – so sieht der fortlaufende Trend aus. Und auch wenn sich bei dem neuesten Lieblingshobby Essen wie bei der Popmusik über Geschmack streiten lässt, eines ist sicher: Essen mit Charakter wird Mainstream. Zum Glück.