Leck mich!
Fotos: Shutterstock, Wolfgang Hummer, Dr. Michael Brauer, Jürgen Dollase
Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich vortrefflich streiten. Was der eine als versalzen empfindet, ist dem anderen zu lau, und nicht jeder kann sich für die Kombination aus scharf und pfeffrig begeistern. Unbestritten hingegen ist: Ob uns etwas mundet oder nicht, wird von verschiedensten Faktoren beeinflusst, denn Geschmack ist ein hochkomplexer, mehrdimensionaler Sinneseindruck, der seine wahre Größe erst im Zusammenspiel mit seinen Artverwandten entfaltet. Rein physiologisch betrachtet ist der Geschmacksinn nämlich der kleinste aller Sinne. Auf Zunge, Gaumen und Kehldeckel befinden sich jene etwa 10.000 Geschmacksknospen, ohne die wir die fünf geschmacklichen Grundqualitäten salzig, sauer, süß, bitter und den pikant-würzigen Umami-Geschmack nicht wahrnehmen könnten.
Wissenschaftliche Uneinigkeit herrscht übrigens nach wie vor darüber, ob die Liste der Grundqualitäten nicht um die Qualität „fetthaltig“ ergänzt werden müsste, zumal in einer 2010 von amerikanischen Wissenschaftlern durchgeführten Studie Testpersonen in der Lage waren, Fettsäuren in geschmacksneutralen Lösungen zu differenzieren. Die lange Zeit weitverbreitete Meinung hingegen, dass…
Fotos: Shutterstock, Wolfgang Hummer, Dr. Michael Brauer, Jürgen Dollase
Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich vortrefflich streiten. Was der eine als versalzen empfindet, ist dem anderen zu lau, und nicht jeder kann sich für die Kombination aus scharf und pfeffrig begeistern. Unbestritten hingegen ist: Ob uns etwas mundet oder nicht, wird von verschiedensten Faktoren beeinflusst, denn Geschmack ist ein hochkomplexer, mehrdimensionaler Sinneseindruck, der seine wahre Größe erst im Zusammenspiel mit seinen Artverwandten entfaltet. Rein physiologisch betrachtet ist der Geschmacksinn nämlich der kleinste aller Sinne. Auf Zunge, Gaumen und Kehldeckel befinden sich jene etwa 10.000 Geschmacksknospen, ohne die wir die fünf geschmacklichen Grundqualitäten salzig, sauer, süß, bitter und den pikant-würzigen Umami-Geschmack nicht wahrnehmen könnten.
Wissenschaftliche Uneinigkeit herrscht übrigens nach wie vor darüber, ob die Liste der Grundqualitäten nicht um die Qualität „fetthaltig“ ergänzt werden müsste, zumal in einer 2010 von amerikanischen Wissenschaftlern durchgeführten Studie Testpersonen in der Lage waren, Fettsäuren in geschmacksneutralen Lösungen zu differenzieren. Die lange Zeit weitverbreitete Meinung hingegen, dass die geschmacklichen Grundqualitäten nur in klar definierten Bereichen der Zunge wahrgenommen werden – süß an der Zungenspitze, bitter im hinteren Teil der Zunge, salzig und sauer an den Rändern –, gilt definitiv als überholt. Heute weiß man: Überall, wo Geschmacksknospen sitzen, werden auch alle Grundqualitäten der Gustatorik abgebildet, die lediglich in bestimmten Bereichen ein wenig intensiver wahrgenommen werden.
Es geht nicht nur ums eine …
Wenn etwas als wohlschmeckend empfunden wird, dann ist das auf die Gesamtheit aller Empfindungen, die sich im Mund-Nasen-Rachen-Raum abspielen, zurückzuführen. Darüber hinaus spielen auch Temperatur, Optik und vor allem die Textur – ein oftmals immer noch sträflich vernachlässigter Einflussfaktor – eine tragende Rolle bei der Geschmackswahrnehmung. Wie Jürgen Dollase in seinem Buch „Geschmacksschule“ bemerkt, „verschafft uns die Textur oftmals viel spektakulärere Erlebnisse beim Essen als das aromatische Bild“.
So sei etwa Kartoffelpüree mit einem Kartoffelchip und Joghurtcreme aromatisch nur bedingt interessant, hinsichtlich der Textur hingegen enorm spannend. Auch Rahmenbedingungen wie Atmosphäre, soziale Stellung, kulturelle Eigenheiten, Alter, genetische Anlagen und vor allem Erinnerungen haben Einfluss auf das Geschmackserlebnis. Dass viele Gerichte bei der eigenen Mutter gefühlt einfach am besten schmecken, ist also nicht zwingend der mütterlichen Kochkunst zu verdanken. Schmecke, beschreibe, kombiniere! So weit, so kompliziert. Wie geht man also mit diesem leicht zu beeinflussenden und doch essenziellsten aller Küchengenossen um?
Geschmackliches Kurvenreich
Jürgen Dollase hat eine sogenannte Geschmackskurve entwickelt, anhand derer sich ablesen lässt, welchen zeitlichen und intensiven geschmacklichen Verlauf Einzelkomponenten eines Gerichts nehmen. Ein Löffelgericht-Beispiel aus Dollases Buch: Räucherlachs mit Birnen-Zucchini-Kompott und Parmesan.
Die Antwort lautet: erforschen und lernen, das geschmackliche Potenzial einzelner Zutaten voll auszuschöpfen und einem Gericht durch die Kombination verschiedener Aromen, Texturen und Temperaturen Harmonie zu verleihen. Der erste Schritt auf diesem Weg ist bewusstes, intensives Schmecken. Eine Fähigkeit, die man erlernen – oder besser gesagt wieder erlernen – kann. Denn einerseits verkümmert der Geschmacksinn im Laufe unseres Lebens, da die Zahl der Geschmacksrezeptoren abnimmt. Andererseits sorgen industrielle Geschmacksverstärker dafür, dass die Menschheit zusehends nicht mehr zwischen natürlichen und künstlichen Aromen unterscheiden kann. Immerhin wandern in der EU jährlich etwa 170.000 Tonnen Industrie-Aromen in die Kochtöpfe und Mägen der Verbraucher. Für Starkoch Stefan Marquard bedeutet schmecken lernen deshalb vor allem zurück zur Natur: „Geschmacklich liegen zwischen einer Karotte aus dem Garten und einer Karotte aus dem Supermarkt Welten, und dessen muss sich jeder Koch bewusst sein. Regional und saisonal einzukaufen, ist das Gebot der Stunde in der modernen Küche.“
Schritt zwei auf dem Weg zur geschmacklichen Erleuchtung: Beschreibe, was du schmeckst! Wer sich durch den Dschungel an Sinneseindrücken kämpft, der sollte auch Worte dafür finden. Doch anders als bei Wein ist das menschliche Vokabular überraschend schnell erschöpft, wenn es darum geht, Empfindungen und Eindrücke von Speisen zu beschreiben. Dabei verfügt ein Steak keineswegs über weniger sensorisches Potenzial als ein schöner Rotwein. In ihrem Buch „Geschmacksthesaurus“ bietet Niki Segnit dem kulinarischen Neo-Sprachkursteilnehmer einige Anregungen, um sich verbal und in weiterer Folge auch handwerklich freier ausdrücken zu können. Es lebe die waldige Haselnuss, die erdige Rote Bete und der – je nach Zustand – senfartige oder schwefelige Kohl! Zu guter Letzt geht es ans Kombinieren. Was die Analyse der einzelnen Geschmackskomponenten eines Gerichtes und die möglichen Kombinationen betrifft, gilt grundsätzlich: kreativ und mutig, aber nicht übermütig. Dass Chili und Schokolade gut zusammenpassen, ist bekannt, aber auch Schokolade und Speck geben ein schönes Pärchen ab – nicht nur in puncto Aroma. Wesentlich ist in jedem Fall, die geschmackliche Entfaltung der einzelnen Komponenten zu berücksichtigen.
Jürgen Dollase rät dazu, Degustationsnotizen anzulegen, und hat dafür sogar eine eigene Grafik entwickelt, auf der sich die geschmackliche Entwicklung von Einzelkomponenten nach Zeit und Intensität darstellen lässt. Dadurch wird unter anderem sichergestellt, dass die Geschmacksnerven des Gastes nicht überfordert werden. Sternekoch Thomas Bühner warnt darüber hinaus vor besonders exotischen Food-Pairing-Räuschen: „Auch ein vermeintlich banales Produkt wie Vanilleeis entwickelt je nach Verzehrtemperatur komplett andere Geschmacksnoten. Dessen sollte man sich bewusst sein und zuerst einmal in die Aromenvielfalt der einfachen Dinge eintauchen, bevor man damit anfängt, Gerichte zusammenzustellen.“ Und auch Stefan Marquard sieht die Zukunft der gehobenen Küche nicht in der Kombination möglichst ausgefallener Aromen. „Globalisierung am Teller ist kein Gütesiegel. Jede regionale Küche kann Crossover sein, das ist es ja, was die Kreativität ausmacht“, ist er überzeugt.
Weniger ist mehr!
Dr. Lothar Kolmer leitet das zentrum für gastrosophie in Salzburg. Er glaubt, dass in der modernen Küche noch viel Raum für geschmackliche Aha-Erlebnisse ist.
Sie sind der Meinung, dass Essen und Trinken zusehends vom Schlaraffenland zum schlaffen Land verkommen …
Kolmer: Der Einfluss industrieller Geschmacksverstärker auf unsere Geschmackswahrnehmung ist enorm. Die genetisch bedingte Vorliebe kleiner Kinder für Süßes beispielsweise wird durch stark gesüßte und aromatisierte Lebensmittel noch verstärkt. Unser Geschmacksinn verkümmert so schon in jungen Jahren. Das ist erschreckend, aber auch eine große Chance für die klassische Kochkunst.
Warum?
Kolmer: Weil sie die Möglichkeit bietet, den natürlichen Charakter der Zutaten zu bewahren und durch geschickte Komposition natürliche Einzelgeschmäcke zu einem höheren Ganzen zu vereinen. Man sensibilisiert am Ende ja auch den Gast für den feinen Unterschied am Gaumen. Und so baut man sich in letzter Konsequenz eine neue Klientel auf.
Das Thema Sensorikschulung gewinnt in der Gourmetküche langsam an Bedeutung. Wo liegt die Zukunft?
Kolmer: Neben Kochkursen auch vermehrt Geschmacksschulungen anzubieten, halte ich für sinnvoll. Es braucht nicht zwingend Molekularküche, um die Leute zu überraschen. Die Aromenvielfalt eines klassischen Gerichtes zu entdecken, kann nämlich überaus spannend sein.
Aroma, öffne dich!
4 Tipps, wie Geschmack zum Erlebnis wird.
1 Neben den einzelnen Grundaromen haben vor allem Textur und Temperatur großen Einfluss auf unser Geschmacksempfinden. Die Empfindlichkeit der Geschmacksknospen ist übrigens zwischen 30 und 35 °C am höchsten. Süß und bitter sind bei 0 °C kaum wahrnehmbar.
2 Die Produktqualität gilt gemeinhin als wichtigste Einflussgröße auf die Entfaltung des Geschmacks. Sternekoch Thomas Bühner rät dazu, bei aller Liebe zum Produkt nicht auf die Verarbeitungs- und Vorbereitungsqualität sowie passende Mengenverhältnisse zu vergessen.
3 Stefan Marquard setzt in puncto Geschmackspotenzierung auf die vier großen „s“ – salzig, süß, sauer und scharf. „Ich nehme von allen einfach eine Nuance zu viel, das ist das perfekte Verhältnis.“ Seine Würzmischung lautet übrigens: 20 Steviakügelchen und ein Kilo Salz.
4 Der richtige Einsatz von Gewürzen will gelernt sein. Vor der Verarbeitung zu würzen, bedeutet in der Regel auch bessere Aromenentfaltung. Und getreu dem Motto „Geschmacksverstärkung durch Verdoppelung“ gilt: Kochwasser und Brühen sind hervorragende Aromenverstärker.
„Süß“ wird vornehmlich an der Zungenspitze wahrgenommen
und in fast jeder Konzentration als angenehmer Geschmack
empfunden. Wer auf Zucker als Süßungsmittel verzichten
möchte, der kann auf Stevia, Honig, Apfel- oder
Reisdicksaft zurückgreifen.
„Sauer“ ist in der Natur ein Hinweis darauf, dass Früchte
noch nicht reif sind, weswegen Kleinkinder sauren
Geschmack lange ablehnen. In der Küche bringt Säure,
wie jene von Essig oder Zitronen, allerdings oft den
entscheidenden Aromenkick.
„Salzig“ wird am Zungenrand wahrgenommen. Der
Geschmack wird durch Speisesalz sowie durch einige andere
Mineralsalze ausgelöst. Der Einsatz von grobem Meersalz oder
Fleur de sel bei Fleischgerichten ergibt ein hervorragendes
Aroma.
„Bitter“ zählt zu den am weitesten verbreiteten
Geschmacksgrundtönen, da unterschiedlichste Lebensmittel
– von Oliven bis zum Salatstrunk – Bitterstoffe enthalten.
Die Geschmacksknospen für „bitter“ sind übrigens 10.000
Mal empfindlicher als jene für „süß“.
„Umami“ ist seit den 80er-Jahren als
eigene Geschmacksqualität anerkannt. Seit 2000 weiß
man auch, dass der pikant-würzige Glutamatgeschmack,
den man vor allem von Sojasauce kennt, keine Mischung
aus den anderen Grundtönen, sondern eine eigenständige
Geschmacksqualität ist.