Es war einmal die Flechte
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Was ist eigentlich eine Flechte? Das ist doch erst einmal die wichtigste Frage, die es zu klären gilt, bevor der Start in die Warenkunde beginnen kann. Die überraschende wie auch charmante Antwort: „Die Flechte ist ein Lebensstil“, erklärt Diplombiologe und Doktor Holger Thüs, Leiter der Flechten- und Schleimpilzsammlung im National History Museum in London. „Flechten sind eine Lebensform von Pilzen. Das bedeutet, ein Pilz lebt mit einer Cyanobakterie oder einer Grünalge zusammen.“ Klingt kompliziert, schmeckt…
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Was ist eigentlich eine Flechte? Das ist doch erst einmal die wichtigste Frage, die es zu klären gilt, bevor der Start in die Warenkunde beginnen kann. Die überraschende wie auch charmante Antwort: „Die Flechte ist ein Lebensstil“, erklärt Diplombiologe und Doktor Holger Thüs, Leiter der Flechten- und Schleimpilzsammlung im National History Museum in London. „Flechten sind eine Lebensform von Pilzen. Das bedeutet, ein Pilz lebt mit einer Cyanobakterie oder einer Grünalge zusammen.“ Klingt kompliziert, schmeckt auch so: pilzig-pelzig-scharf – irgendwie gut.
Kleine Warenkunde
Ungefähr zwei Drittel der Flechten stellen eine Symbiose aus grünen Algen und Pilzen dar. Dabei können Algen durch Fotosynthese für den Pilz Kohlenhydrate und Sauerstoff produzieren und nehmen im Austausch Wasser und mineralische Salze entgegen. Pilze sind Feinschmecker, weshalb die Kohlenhydrate wohl am ehesten Grund für das gemeinsame Leben sind. Die Symbiose mit den Bakterien wird in Chile als ein Grund für das üppige Wachstum der Bäume des Landes diskutiert. Unscheinbare Helfer: Die gute Versorgung mit Stickstoff über den Waldboden ist eine Wirkung der herunterfallenden Flechten. Das Beeindruckende dabei ist: Der Pilz bewirtschaftet die Bakterien und Algen wie ein Landwirt. Die Flechte als Lebensstil und ihre Eigenschaften heben sich deutlich von denen der einzelnen Lebensformen ab: Erst in der Symbiose ergeben sich Aussehen, Verhalten und Stoffwechselprozesse. Wobei die Mikroinhaltsstoffe der vermutlich weit mehr als 25.000 Flechtenarten größere Unterschiede aufweisen, als das oftmals ähnliche Aussehen vermuten ließe. Von den 25.000 Arten leben rund 2000 in Mitteleuropa. Tendenz rückläufig. Das liegt vor allem an der Luftverschmutzung. Flechten sind besonders anfällig für kleinste Verunreinigungen. Wobei es auch Arten gibt, die vermehrt in Straßen- und Industrienähe wachsen. Aufgrund ihrer Existenz und ihres Wachstums dienten sie dem jungen Dr. Thüs schon mit 16 Jahren als Indikator für die Luftqualität seines Heimatortes. Einige Versuche später, von der Faszination Flechte wegzukommen, trifft man ihn heute in London in einem Sammelsurium an Flechten und Schleimpilzen wieder. Beeindruckt war er schon damals von der unermüdlichen Erschließung von Lebensräumen und der Vielfalt der Arten: „Die Wohngemeinschaft Flechte ist sehr kreativ bei der Umstellung des Stoffwechsels. Ein bevorzugter Lebensraum wechselt zwischen extrem heißen, trockenen und feuchten Phasen.“
Sie dienen parasitischen Pilzen als Nahrungsmittel oder zur Isolation von Vogelnestern. Durch ihre Struktur sorgen sie für ein warmes Zuhause. Zur Tarnung passen sich Falter und Frösche an das Flechtenmuster am Baum an. Als in Europa aufgrund der Umweltverschmutzung auch durch die Verfeuerung von Kohle das Flechtenvorkommen zurückging, fiel eine besonders gut angepasste Motte im Wald auf wie ein bunter Hund und war damit ein einfaches Opfer für Vögel. Es gibt Flechtenarten, die ein Alter von 4500 Jahren erreichen können. Das normale Durchschnittsalter liegt aber bei mehreren hundert Jahren. Unverschämt langsam wachsen sie meist zwischen wenigen Millimetern und einem Zentimeter im Jahr. Das macht eine Kultivierung – auch aufgrund der divenhaften Anforderungen an ihre Umwelt – unmöglich.
Not oder Delikatesse?
Flechten sind also Sauerstoff- oder Stickstoffproduzenten, bieten Lebensräume für Pflanzen, Pilze und Tiere und leben weitestgehend dort, wo reine Luft ist. Aber das Erstaunlichste: Einige von den blüten- und fruchtlosen Flechten finden erneut Anklang in der Küche. Erneut? Wer isst denn sowas? In Hungersnöten wurde besonders in Kanada und skandinavischen Ländern auf einen Brei oder Brot aus der getrockneten Flechtensorte Isländisch Moos zurückgegriffen. Magenfüllend und konserviert durch die Säuren der Flechten. Die Konservierung von Fleisch und Backwaren mit Flechten wurde sogar 1951 patentiert. Aber: Besonders gut schmecken die Waldteppiche – zumindest den heutigen mitteleuropäischen Geschmacksknospen – nicht. Stundenlanges Einkochen in Wasser und Bikarbonat sollte den bitteren Geschmack des Flechtenbreis verringern. Bittere Speisen waren aber noch bis vor einigen Jahrhunderten ein gutes Zeichen: Süßspeisen traute der Mensch lange Jahre nicht, weil sie schneller verderben. Außerdem war bitter die bevorzugte Geschmacksrichtung besonders während des Mittelalters und in nordischen Kulturen. Weniger bitter ist die Flechte angeblich, wenn man sie aus dem Magen eines frisch geschlachteten Rentieres kratzt. Das liegt an den Magensäften der Tiere. So sollen es zumindest die Ureinwohner arktischer Gefilde gemacht haben. Wem das nur selten möglich ist, der kann gerade in indischen Läden, im Internet oder bei einer Reise in den Orient zugreifen. Die meisten Arten sind günstig. Flechtenpulver in Indien besteht hautsächlich aus Arten der Gattungen Parmotrema, Everniastrum, Rimelia und Flavoparmelia. 100 Gramm der Gewürzmischungen, die als Dhagar Phool, Kalpaasi oder Black Stone Flower bezeichnet werden, gibt es vor Ort schon für rund zwei Euro – sparsam verwendet reicht es für ein Jahr. In Schweden und Russland wurde Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Rentierflechte, welche kiloweise von ebendiesen verschlungen wird, Schnaps gebrannt. Schnell war klar, dass eine Massenproduktion nicht möglich ist: Neben langem Einkochen gehörte auch eine Behandlung der Flechten mit Schwefelsäure zum Produktionsprozess. Das war der gute Tropfen dann doch nicht wert.
Wer lange lebt, erlebt auch viel
In den Flechten sind häufig Schwermetalle und andere Schadstoffe enthalten. Im Besonderen Lungenflechten – mancherorts als Delikatesse gehandhabt – sind anfällig für jegliche Verschmutzung der Umwelt. Sie sterben. Daher ist ein Verzehr dieser Art zu vermeiden – der Flechte zuliebe. Der Umgang mit Flechten als Lebensmittel muss ein sorgfältiger und nachhaltiger bleiben: Bleibt man bei dem Vergleich mit dem Lebensstil, ist die Flechte wohl ein sehr dramatisierender und gemütlicher Zeitgenosse. Flechten lassen sich nicht nur Zeit für das Wachstum, sie stellen auch hohe Ansprüche an ihren Lebensraum: Wird bei der Ernte vom Baum die Rinde beschädigt, wächst die gleiche Art meist nicht mehr an dieser Stelle. Indische Flechtenerntebauern werden zudem nach Gewicht bezahlt und lassen sich oftmals von etwas mehr Geld dazu verleiten, auch Rinde unter das Produkt zu mischen. Flechten dienen mit seinem pilzig-erdigen Geschmack, einer pelzigen Komponente und einer gewissen unvergleichbaren Schärfe als Geschmacksträger. Es unterstützt die Geschmäcker der anderen Gewürze und konserviert sie zeitgleich. Ein paar Tausend Kilometer Richtung Nord-Osten ist die Iwatake eine hochpreisige Delikatesse: Die Japaner verspeisen liebend gerne die Flechtenart, die besonders an steilen Steinhängen wächst. Ein Sprichwort beschreibt den gefährlichen Job: Iwatake-Sammler müssen immer im Voraus ihre Monatsmiete zahlen.
Es brodelt der Hexenkessel
Die Bedeutung als Heilpflanze und als Bestandteil von Parfüm übernimmt den größten wirtschaftlichen Nutzen, der aus den Pilz-Wohngemeinschaften gezogen wird. Allein die Industrie verwendet jedes Jahr mehr als 8000 Tonnen Flechtenmaterial. Aber ihre wohl bekannteste Rolle übernahm sie bereits in der Bibel: Kontrovers wurde diskutiert, ob die Wüstenflechte das biblische Manna – Brot vom Himmel – sei. Sie musste die Bühne aber für die morgentauproduzierenden Schildläuse räumen: Manna sei laut Angaben der Sinai süß wie Honigkuchen – und das ist die Flechte dann doch wirklich nicht. Trotzdem wird die Flechte als Gewürz und optisches Highlight – Rentierflechten sehen aus wie kleine Bäume – immer mehr in der Sternegastronomie verwendet. Sat Bains, Magnus Nilsson und René Redzepi ergänzen ihre Menüs mit dem natürlichen Geschmacks- und Geruchsfixierer und überraschen mit den neuesten Kreationen: Rentierflechte als Unterlage für das neun Monate trocken gereifte Fleisch einer Rentierkuh oder bestes Beef, eingerollt in einer Flechtenbröselmischung. Wer jetzt auf die Idee kommt, im Wald Flechten wie Pilze zu sammeln, dem sei gesagt: Das ist in Österreich und Deutschland nicht erlaubt, weil viele Flechtenarten sterben, aber auch für Mensch und Tier giftig sein können. Weil das Verbotene oftmals so spannend ist, gibt’s alle Facts und Kauftipps über die geheimnisvollen Flechten
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